Text and Translation submitted by Lothar Mundt.

 


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SATYRARUM
LIBRI QUINQUE PRIORES

Thoma Naogeorgo Straubingensi autore

 


 

Thomas Naogeorgus

SATIREN
Die ersten fünf Bücher

 

 


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ILLUSTRISS<IMO>[1] PRINcipi et Domino, D. Georgio Fridricho, Marchioni Brandenburgensi etc. et Burggravio Norinbergesi, Domino suo clementiss<imo>[2], THOMAS NAOGEORGUS salutem optat per Christum.

 

Dem durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Georg Friedrich, Markgrafen von Brandenburg usw. und Burggrafen von Nürnberg, seinem allergnädigsten Herrn, wünscht Thomas Naogeorgus Wohlergehen durch Christus.

 

Antiquus mos est scriptorum ferè omnium, illustris<sime>[3] Princeps, scripta sua vel principibus vel summis in repub<lica>[4] magistratibus nuncupare: quòd intelligant ad illorum praecipuè curam pertinere, ut vera, iusta, honesta utiliaque scribantur doceanturque, quodque utilissima quaeque illorum, tanquam numinis alicuius, nomine ac praesidio deceat in populorum pervenire manus, quod denique illis bonas literas honestaque studia non minus alere atque promovere conveniat quàm rempub<licam>[5], quàm pacem,

 

Es ist ein althergebrachter Brauch fast aller Schriftsteller, durchlauchtigster Fürst, ihre Werke Fürsten oder höchsten Würdenträgern des Staates zu widmen, weil sie wissen, daß vorzugsweise diesen die Sorge dafür obliegt, daß wahrhaftige, rechtschaffene, ehrenwerte und nützliche Dinge geschrieben und gelehrt werden, weil es sich ferner geziemt, daß gerade die nützlichsten Schriften unter deren (gleichsam göttlichem) Namen und Schutz in die Hände der Völker gelangen, und weil es diesen schließlich gebührt, die gute Wissenschaft und ehrenwerte Studien ebenso zu hegen und zu fördern wie den Staat, wie den Frieden,

 

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<4> quàm honestatem quàmque artes bellicas et caetera humana. Hunc et ego morem sequi volens hosce Satyrarum libros T<uae>[6] dedicavi C<elsitudini>[7] tam ob illas, quas commemoravi, causas quàm ob alias quasdam. At vereor, ne quis me ineptè ac absurdè fecisse dicat, quòd Satyras T<uae> C<elsitudini>[8] nuncuparim, quum hoc scripti genus apud Germanos hactenus (quòd sciam) intentatum inusitatumque sit atque vulgò malè audiat, tanquam maledicum petulansque pariter et obscoenum. Porrò consilii mei rationem brevibus reddam. Fuerunt sanè, qui ante me scripserunt quorumque Satyrae leguntur, Horatius, Persius, Iuvenalis, Franciscus Philelphus, nonnunquam in suis illis Satyris ab obscoenitate petulantiaque non alieni, atque nominatim in quosdam invecti sunt nimis acerbè, non veritatis honestatisque, ut videtur, sed traducendorum illorum hominum studio. Et si meae Satyrae illiusmodi essent, iure reveritus essem eos T<uae> C<elsitudinis>[9] nomini dedicare. Quia verò à D. Paulo admone

wie die Wohlanständigkeit und wie die Kriegskünste und sonstige menschliche Dinge. In dem Willen, auch für meine Person diesem Brauch zu folgen, habe ich die vorliegenden Satirenbücher Deiner Hoheit gewidmet: sowohl aus den bereits angeführten als auch aus gewissen anderen Gründen. Ich fürchte jedoch, daß man mir die Tatsache, daß ich Deiner Hoheit Satiren gewidmet habe, als eine abgeschmackte und widersinnige Handlung auslegen könnte, da ja diese Gattung der Literatur, soviel ich weiß, bei den Deutschen bislang unerprobt und ungebräuchlich ist und als eine schmähende, ausgelassene und zugleich unzüchtige Gattung allgemein in schlechtem Rufe steht. Ich möchte nun den Grund meines Entschlusses in aller Kürze darlegen. Horaz, Persius, Juvenal und Franciscus Philelphus, die vor mir geschrieben haben und deren Satiren man liest, neigten in diesen ihren Satiren zuweilen tatsächlich zu Unzüchtigkeit und Zügellosigkeit und haben gewisse Personen mit Namensnennung allzu scharf angegriffen, wobei sie, wie es scheint, ihr Trachten nicht auf Wahrhaftigkeit und Ehrbarkeit richteten, sondern darauf, jene Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Und wären meine Satiren von dieser Art, so hätte ich mich zu Recht gescheut, sie dem Namen Deiner Hoheit zu widmen. Da der heilige Paulus uns jedoch ermahnt,

 

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<5>mur, non solum à turpibus factis, verùm etiam à spurcis obscoenisque cavere sermonibus, ab illorum ego mihi libertate temperandum duxi dedique operam, ut ne Satyri mei, unde Satyrae nomen deductum volunt, tam petulantes, tam lascivi tamque cornuti essent, quàm illorum fuere. Deinde si quid taxavi, id aut feci in genere, aut nomina propria ponere omisi, ut iurè de me queri possit nemo. Generalis enim de vitiis disputatio malorumque reprehensio ad nullius, Hieronymo autore, pertinet inuriam. Praeterea quid de eo dicam, quòd hoc carmen ferè maledicum censetur? Cur autem potius quàm alia quovis nomine, ubi boni malique describuntur, ubi recta, vera, honesta piaque laudantur atque his taxantur contraria? Veram equidem pietatem sinceramque Evangelii doctrinam laudo, veneror atque colo cupioque conservatam propagatamque. Tum qui studium huc suum operamque conferunt, pro virili collaudo atque hortor. Eregionè verae

uns nicht nur vor schimpflichen Taten, sondern auch vor säuischen und unzüchtigen Reden zu hüten, habe ich gemeint, mich der Zügellosigkeit jener enthalten zu müssen, und mich darum bemüht, daß meine „Satyrn“ (man nimmt an, daß der Name „Satire“ sich von ihnen herleitet) nicht so ausgelassen, so lüstern und so gehörnt ausfielen, wie die jener waren. Wenn ich ferner etwas getadelt habe, so habe ich dies entweder im allgemeinen getan oder auf die Nennung von Eigennamen verzichtet, so daß sich niemand zu Recht über mich beklagen kann. Eine allgemein gehaltene Erörterung von Lastern und der allgemein gehaltene Tadel des Schlechten bedeuten nämlich, wie Hieronymus sagt, für niemanden eine Beleidigung. Was soll ich darüber hinaus noch dazu sagen, daß diese Dichtung fast als eine Lästerschrift eingeschätzt wird? Warum dies aber in höherem Maße als andere Werke, welchen Titels auch immer, in denen gute und schlechte Menschen beschrieben, in denen das Tugendhafte, Wahrhaftige, Ehrbare und Fromme gelobt und das ihnen Entgegengesetzte getadelt wird? Allerdings lobe, verehre und achte ich wahre Frömmigkeit und die reine Lehre des Evangeliums und will, daß sie bewahrt und verbreitet werden. Ferner belobige und ermutige ich nach Kräften diejenigen, die ihr Bestreben und Bemühen hierauf richten. Dagegen

 

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<6> pietatis atque adeò Christi Iesu hostes ac desertores pravaeque doctrinae sectatores defensoresque derideo, insector, improbo atque reprehendo. Similiter mihi in utramque partem cum virtutibus vitiisque res est. Si haec facere maledici hominis est aut maledicentia potest dici, fieri nunquam poterit, quin Hieronymus, Cyprianus, Chrysostomus atque alii ecclesiastici scriptores, imò etiam omnes prophetae et apostoli Christusque ipse maledicus existimetur. Quoties enim prophetae invehuntur in idolorum cultores, in impios sacerdotes et prophetas, in tyrannicos avarosque principum mores, in corrupta perversaque vulgi studia vitiaque multitudinis vel privatorum? Quoties apostoli, et D. praesertim Paulus, acerbè reprehendunt pseudoapostolos, antichristos, seductores, impostores atque etiam fidei desertores? Nonne tales appellant stultos, canes, ventres, mendaces, inimicos crucis Christi, diabo

verlache, verhöhne, mißbillige und tadle ich diejenigen, die die wahre Frömmigkeit, ja sogar Jesus Christus anfeinden und im Stich lassen und Anhänger und Verteidiger einer verkehrten Lehre sind. Ähnlich verfahre ich nach beiden Seiten bei Tugenden und Lastern. Wenn dieses Tun auf einen Lästerer hindeutet oder Lästerei genannt werden kann, so müssen unbedingt auch Hieronymus, Cyprianus, Chrysostomus und andere Kirchenschriftsteller, ja sogar alle Propheten und Apostel und Christus selbst für Lästerer gehalten werden. Wie oft nämlich wettern die Propheten gegen Verehrer von Götzenbildern, gegen gottlose Priester und Propheten, gegen tyrannisches und habgieriges Verhalten von Fürsten, gegen verderbte und schlechte Bestrebungen des Volkes und gegen Laster einer größeren Zahl von Menschen oder einzelner Personen! Wie oft tadeln nicht die Apostel, und besonders der heilige Paulus, mit Schärfe die unechten Apostel, Antichristen, Verführer, Betrüger und auch diejenigen, die sich vom Glauben abgewandt haben! Bezeichnen sie solche Menschen nicht als Dummköpfe, Hunde, Bäuche, Lügner, Feinde des Kreuzes Christi,

 

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<7>li denique filios et mancipia atque aliis nominib<us>[10] multis? Christus servator noster, nonne vehementer fulminat in scribas et Pharisaeos, subinde hypocritas appellans, sepulchra dealbata, caecos ducesque caecorum, illorumque impietatem perversitatemque palàm traducit, depingit illisque exprobrat? Non est hoc maledicentia nec conviciandi vel libido vel morbus, sed admonitio, sed correctio zelusque pro domo regnoque Dei: quo fit, ut non vitia solum ac impietates sceleraque, verùm ipsos etiam quodammodo homines impios sceleratosque, si sint praefracti atque huiusmodi esse perseverent, odio prosequamur. Hinc divinus Psaltes: „Odi“, inquit, „ecclesiam malignantium, et cum impiis non sedeo.“ Et: „Domine, qui oderunt te, odi, et super inimicos tuos tabesco. Perfecto odio odi illos, inimici facti sunt mihi.“ Super haec huiusmodi sceleratis impiisque hominibus multa identidem mala (sicut et caeteri prophetae) im

ja sogar als Söhne und Sklaven des Teufels? Und belegen sie sie nicht auch noch mit vielen anderen Namen? Donnert nicht Christus, unser Heiland, heftig gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer? Nennt er sie nicht zu wiederholten Malen Heuchler, übertünchte Gräber, Blinde und Führer von Blinden und verspottet und beschreibt er nicht öffentlich ihre Gottlosigkeit und Verkehrtheit und macht sie ihnen zum Vorwurf? Dies ist keine Lästerei, und es ist auch keine Begierde oder krankhafte Sucht nach dem Zufügen von Schmähungen, sondern es ist Ermahnung, Zurechtweisung und Eifer für das Haus und die Herrschaft Gottes. Daher kommt es, daß wir nicht nur Laster, gottloses Wesen und Freveltaten, sondern gewissermaßen auch die gottlosen und frevlerischen Menschen selbst, sofern sie unbeugsam sind und in diesem Zustand verharren, mit Haß verfolgen. Deshalb sagt der göttliche Psalmist: „Ich hasse die Versammlung der Frevler und sitze nicht bei den Gottlosen.“ Und: „Herr, ich hasse die, die dich hassen, und ich härme mich ab angesichts deiner Feinde. Ich hasse sie mit vollkommenem Haß, sie sind mir zu Feinden geworden.“ Überdies wünscht er – wie auch die übrigen Propheten – derart frevlerischen und gottlosen Menschen immer wieder vieles Böse an.

 

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<8>precatur. Permultum interest inter scurram maledicumque, qui vel derisus gratia vel scabie maledicendi fanda atque infanda in quosvis deblaterant, quo vel stomachum laesi effundant vel malevolentem animum aliorum recreent vituperiis, atque inter verbi Dei ministrum ac prophetam et quemlibet honestum virum, qui vel officio vel charitate vel zelo motus vitia castigat ac detestatur. Nec scurra aut maledicus melior iis esse solet, quos vituperat quibusque vitia exprobrat, sed deterior ferè et nequior. At prophetis omnibusque honestis viris magna incumbit necessitas, ut iis, quos reprehendunt, sint meliores iustioresque. Atque hanc ipsi sibi imponunt necessitatem accusando, reprehendendo insectandoque malos. Nunquam enim audebunt committere, ut meritò ipsi ob eadem scelera reprehendi possint. „Turpe est“ enim, ut ait Cato, „doctori, si culpa redarguit ipsum.“ Et Iuvenalis Sat. 2.:

Es ist ein sehr großer Unterschied einerseits zwischen dem Possenreißer und dem Lästerer, die um des Spottes willen oder aus Schmähsucht über beliebige Personen Erlaubtes oder Unerlaubtes daherschwätzen, um ihrem Unwillen über eine Kränkung Luft zu machen oder durch Maßregelung anderer der eigenen übelwollenden Gesinnung Genüge zu tun, und andererseits einem Diener und Propheten des Wortes Gottes sowie jedem ehrenwerten Mann, der sich aus Pflichtgefühl, Nächstenliebe oder Eifer bewegen läßt, Laster zu geißeln und zu verfluchen. Ein Possenreißer oder Lästerer ist auch gewöhnlich nicht besser als diejenigen, die er tadelt und denen er Laster vorwirft, sondern beinahe schlimmer und nichtsnutziger. Den Propheten und allen ehrenhaften Männern dagegen obliegt die große Verpflichtung, besser und gerechter zu sein als diejenigen, die sie tadeln. Und sie erlegen sich diese Verpflichtung noch dazu selbst auf, indem sie die Schlechten anklagen, tadeln und verhöhnen. Sie werden nämlich niemals wagen, es dahin kommen zu lassen, daß sie selbst wegen der gleichen Freveltaten verdientermaßen getadelt werden könnten. „Für einen Lehrer ist es“ ja, wie Cato sagt, „schimpflich, wenn eine Schuld ihn selbst Lügen straft.“ Und Juvenal sagt in der zweiten Satire:

 

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<9>„Ultra Sauromatas fugere hinc libet et glacialem
Oceanum, quoties aliquid de moribus audent,
Qui Curios simulant et Bacchanalia vivunt.“

Et paulo pòst:

„Loripedem rectus derideat, Aethiopem albus.
Quis tulerit Gracchos de seditione querentes?
Quis coelum terris non misceat et mare coelo,
Si fur displiceat Verri, homicida Miloni?
Clodius accuset moechos, Catilina Cethegum?
In tabulam Syllae si dicant discipuli tres?“

Pignus igitur quodammodo dat vir bonus reip<ublicae>[11] Deoque in primis, se neque eiusmodi esse neque fore, cuiusmodi illi sunt, quos verbis aut stylo insectatur. Hoc et Cicero pro M. Caelio contestatur: „Neque enim“, inquiens, „potest, qui hominem consularem, quia ab eo rempub<licam>[12] violatam diceret, in iudicium vocarit, ipse esse in repub<lica>[13] civis turbulentus. Non potest, qui ambitu ne absolutum quidem patitur esse absolutum, ipse impunè unquam esse largitor.“ Haec Tullius. Quo magis ergo quisque veritatem, iusticiam, constantiam, pudicitiam, pietatem atque alias virtu
„Weiter noch als Sarmatien reicht und das nördliche Eismeer
Möchte man fliehn, wenn sich Leute von Sitte zu reden erfrechen,
Welche die Curier spielen und Bacchanalien leben.“[i]

Und wenig später:

„Nur der Grade verachte den Klumpfuß, den Neger der Weiße!
Wer denn ertrüge die Gracchen, die innre Empörung beklagen?
Wer soll nicht voll Entrüstung die Erd’ und den Himmel beschwören,
Wenn ein Räuber dem Verres mißfällt, ein Mörder dem Milo,
Clodius Störer der Ehe verklagt, Catilina Cethegus,
Wenn die drei Jünger des Sulla die Ächtungsbefehle bekämpfen?“[ii]

Der Ehrenmann gibt also dem Gemeinwesen und vor allem Gott gewissermaßen ein Pfand darauf, daß er nicht so sei und auch nicht so werde, wie jene sind, die er in Wort oder Schrift verhöhnt. Hierauf beruft sich auch Cicero zugunsten des M. Caelius. Er sagt:

„Unmöglich, daß jemand, der einen ehemaligen Konsul vor Gericht zieht, weil er sich wider den Staat vergangen habe, in diesem Staate selbst zum Aufrührer wird; unmöglich, daß jemand, der einen Freispruch in einer Amtserschleichungssache nicht als Freispruch hinnimmt, selbst jemals ungestraft Bestechungsgelder verteilt.“[iii]

So Tullius. Je mehr man also Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Beständigkeit, Keuschheit, Frömmigkeit und andere Tugenden

 

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<10>tes commendat, hoc verior, iustior, constantior, pudicitior magisque pius esse cogitur. Rursus, quo magis vitia atque impietatem insectaris, hoc magis ab iis cogêris esse alienus, nisi turpitudinem absurditatemque summam velis admittere tuique esse ipsius condemnator. Quamobrem vitia reprehendere et quicquid pietati veraeque religioni adversatur detestari, non est maledicentia, sed honestatis provectio atque religionis, correctio extirpatioque vitiorum, exhortatio ad poenitentiam, praemonitio, ne perversi supplicium dignasque tandem poenas sua sibi pravitate à iusto Dei iudicio asciscant. Nec refert, utrum reprehensio verbis an stylo, oratione pedestri an equestri fiat, modò honestè ac utiliter et non scurrili more. Quid quòd vitiorum impietatumque taxatio non solum honesta est et utilis, verùm summopere etiam necessaria? Absque ea siquidem nec magistratus regere nec

preist, um so wahrhaftiger, gerechter, beständiger, keuscher und frömmer muß man zwangsläufig sein. Und umgekehrt: je mehr man Laster und Gottlosigkeit verhöhnt, um so ferner muß man ihnen zwangsläufig stehen, wenn man nicht die größte Schimpflichkeit und Ungereimtheit begehen und über sich selbst ein Verdammungsurteil sprechen will. Laster zu tadeln und alles, was der Frömmigkeit und dem wahren Glauben widerstreitet, zu verfluchen, ist daher keine Lästerei, sondern Beförderung der Ehrenhaftigkeit und des Glaubens, Zurechtweisung und Ausrottung der Laster, Aufforderung zur Reue und Ermahnung an die Schlechten, damit sie nicht durch ihre Verworfenheit nach Gottes gerechtem Urteil Vergeltung und schließlich verdiente Strafen auf sich ziehen. Und es tut nichts zur Sache, ob der Tadel in Wort oder Schrift, in niedriger oder erhabener Rede zum Ausdruck gebracht wird, wenn es nur auf ehrenhafte und nutzbringende und nicht auf possenreißerische Art geschieht. Ja mehr noch: die Zurechtweisung von Lastern und gottlosem Wesen ist nicht nur ehrenwert und nützlich, sondern auch in höchstem Maße notwendig! Ohne sie nämlich können die Obrigkeiten nicht regieren,

 

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<11> philosophi docere nec concionatores poenitentiam inculcare possunt. Unde Deus prophetae dicit: „Clama, ne cesses: quasi tuba exalta vocem tuam et annuncia populo meo scelera eorum et domui Iacob peccata eorum.“ Adulatores, assentatores, palpones ac dissimulatores, qui suspenso gradu summisque insistentes digitis incedunt, ne quem offendant, omnia corrumpunt, scelera probant atque confirmant, seducunt principes magistratusque et plebem; dumque sui ventris compendia procurant aut hominum aucupantur favorem, et semetipsos et eos, quibuscum conversantur, in impietatum sentinam vitiorumque colluviem inque divinam denique iram praecipitant. Sic enim Dominus per Prophetam: „Popule meus“, inquit, „qui te beatum dicunt, ipsi te decipiunt et viam gressuum tuorum dissipant.“ Est hoc quidem impiorum omnium, ut corrigi et reprehendi nolint, sed omnia potius laudari cupiant sua, ut dicant videntibus (ut est apud Pro

die Philosophen nicht lehren, die Prediger nicht die Reue einschärfen. Daher sagt Gott zum Propheten: „Rufe laut, laß nicht nach, erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk ihre Verbrechen und dem Hause Jakob ihre Sünden.“ Schmeichler, Jasager, Liebediener und Heuchler, die mit ängstlichem Schritt auf Zehenspitzen einhergehen, um niemandem zu nahe zu treten, bringen alles in Verderbnis; sie billigen und bestärken Verbrechen, verführen Fürsten und Obrigkeiten und das gemeine Volk; und während sie um Vorteile für ihren Bauch besorgt sind oder auf die Gunst der Menschen lauern, stürzen sie sowohl sich selbst als auch die, mit denen sie Umgang haben, in den Abschaum gottlosen Wesens und den Unrat der Laster – und schließlich in den Zorn Gottes. Denn so spricht der Herr durch den Propheten: „Mein Volk! Die dich gesegnet nennen, verführen dich und zerstören den Weg, auf dem du gehen sollst.“ Es ist dies freilich eine Eigenheit aller Gottlosen, daß sie nicht zurechtgewiesen und getadelt sein wollen, sondern vielmehr begierig sind, daß man alles an ihnen lobt, so daß sie zu den Sehern, wie es beim Propheten

 

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<12>phetam) „nolite videre, et aspicientibus, nolite aspicere nobis ea, quae recta sunt. Loquimini nobis placentia, videte nobis errores, auferte à me viam, declinate à me semitam, cesset à facie nostra sanctus Israel“ etc. Quicunque tamen ex animo Christum veritatemque amat virtutumque est studiosus, nullo periculo poterit dimoveri, quin falsa impiaque carpat ac damnet, nulloque cuiusquam favore adduci, ut impietates sceleraque silendo ac dissimulando comprobet confirmetque. Abhinc annos ferè novem, quum Spirae imperialis esset conventus, audivi illic concionatorem quendam à magnis laudari viris hoc nomine, quòd ea, quae diceret, ex vero sinceroque fonte hausta essent. Interroganti mihi, unde id colligerent, responderunt: „Quia neminem carpit, nihil vituperat, sed omnibus intactis et illaesis, quae vera sunt, docet.“ Homines suaves! Quasi verò doceri vera plenè et cum fructu possint, nisi ex adverso falsa et

heißt, sagen: „Ihr sollt nichts sehen, und zu den Schauenden: ihr sollt uns nicht schauen, was recht ist; predigt uns, was uns gefällt, schaut uns Irrtümer; nehmt mir den Weg, lenkt mir den Pfad ab, der Heilige Israels weiche von unserem Angesicht“ usw. Wer immer aber Christus und die Wahrheit von Herzen liebt und nach einem tugendhaften Wandel strebt, wird sich durch keine Gefahr davon abbringen lassen, Lüge und Gottlosigkeit zu bekämpfen und zu verdammen, und durch keinen Gunsterweis irgendeines Menschen dazu verleitet werden können, gottloses Wesen und Freveltaten durch Stillschweigen und Verstellung gutzuheißen und zu bekräftigen. Vor fast neun Jahren, als in Speyer ein Reichstag stattfand, hörte ich dort, wie ein gewisser Prediger von bedeutenden Männern gelobt wurde, und zwar deshalb, weil das, was er sage, aus einem unverfälschten, reinen Quell geschöpft sei. Auf meine Frage, woraus sie dies entnähmen, antworteten sie mir: „Weil er niemanden angreift, nichts tadelt, sondern die Wahrheit lehrt, ohne jemanden anzutasten oder zu verletzen.“ Freundliche Menschen! Als ob die Wahrheit wirklich vollständig und fruchtbringend gelehrt werden könnte, ohne daß umgekehrt Falsches und

 

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<13> impia condemnentur, vituperentur pariterque ii, qui falsa adamant sectanturque. Concionator aut scriptor, qui nihil damnat, neminem reprehendit nihilque insectatur, aliud nihil est quàm sal infatuatum, quod, iuxta Christi sententiam, foras proiectum, conculcandum est, quum nulli sit usui. Tantum abest, ut ex sincero fonte hauriat. Quum enim hoc turbulentissimo seculo tot sint impietates, tot perversa dogmata, tot in consuetudinem ducta scelera, tantus vitiorum ubique proventus, tanta denique impiorum malorumque hominum copia existat: quî fieri posset, ut Christum veritatemque amans omnia dissimulet, nihil taxet ac reprehendat? Quomodo potest Evangelii doctor aut scriptor sincerus non odisse Christi adversarios idque profiteri vel verbis vel factis vel scriptis? Si ille sua neminem vituperans nihilque damnans ex sincero fonte hausit, unde hausit Christus, apostoli et prophetae? unde tot ecclesiastici scri

Gottloses und zugleich diejenigen, die dem Falschen zugetan sind und ihm nachstreben, verurteilt und gerügt werden! Ein Prediger oder Schriftsteller, der nichts verurteilt, niemanden tadelt und nichts brandmarkt, ist nichts anderes als das fade Salz, das nach Christi Wort vor die Tür geschüttet und zertreten werden muß, weil es niemandem von Nutzen ist. So weit ist er davon entfernt, aus einem reinen Quell zu schöpfen! Da es ja in diesem höchst sturmbewegten Zeitalter soviel gottloses Wesen, so viele verkehrte Lehren, so viele zur Gewohnheit gewordene Verbrechen gibt, da Laster allenthalben so gut gedeihen, da schließlich eine so große Zahl von gottlosen und schlechten Menschen auf den Plan tritt: wie wäre es da möglich, daß jemand, der Christus und die Wahrheit liebt, alles vertuschte und nichts kritisierte und tadelte? Wie könnte jemand, der sich als Lehrer oder Schriftsteller aufrichtig dem Evangelium widmet, die Widersacher Christi nicht hassen und sich hierzu nicht in Wort, Tat oder Schrift bekennen? Wenn jener seine Worte, mit denen er niemanden tadelt und nichts verurteilt, aus einem reinen Quell geschöpft hat, woraus haben dann Christus, die Apostel und die Propheten geschöpft, woraus so viele Kirchenschriftsteller,

 

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<14>ptores, qui nonnunquam acerbissimè quosdam taxarunt? Quin potius, ut suprà dictum, qui vera oppugnari cernit et impia doceri tenerique, qui scelera vitiaque exundare vitamque Evangelio adversam conspicatur et silet, connivet, dissimulat, praeterit nihilque attingit nisi molli articulo et quasi aliud agens, non doctor aut scriptor est sincerus quique è sincero fonte hauriat, sed improbus adulator aut collusor, canis mutus, ut ait Propheta, non valens latrare, deceptor populi, ventris curator, gratiae ac favoris humani auceps et venator, cuius è manib<us>[14] perditorum hominum animas Deus requisiturus est. Ut nullus magistratus laudari potest, si ad omnium scelera conniveat, neminem reprehendat, neminem puniat, sed sursum atque deorsum misceri sinat omnia patienter, donec latronum, furum, homicidarum, adulterorum, scortatorum, impostorum aliorumque facinorosorum plenae fiant urbes, vici, rura sylvaeque, sic con

die bestimmte Personen bisweilen aufs schärfste kritisiert haben? O nein! Wer erkennt, daß die Wahrheit bekämpft und Gottlosigkeit gelehrt und aufrechterhalten wird, wer sieht, daß Verbrechen und Laster überhandnehmen und der Lebenswandel dem Evangelium entgegengesetzt ist, und zu alledem schweigt, die Augen verschließt, sich verstellt, gleichgültig daran vorübergeht und und höchstens einmal etwas sanft mit dem Finger antippt – gleichsam so, als sei er gerade mit etwas anderem beschäftigt: ein solcher ist, wie oben bemerkt, kein lauterer Lehrer oder Schriftsteller, der aus einem lauteren Quell schöpft, sondern ein unredlicher Schmeichler oder Mitspieler, ein stummer Hund, wie der Prophet sagt, der nicht zum Bellen taugt, ein Volksbetrüger, ein Diener seines Bauches, einer, der Gnade und Gunst der Menschen zu erschleichen und zu erjagen trachtet, aus dessen Händen Gott die Seelen der verdorbenen Menschen einfordern wird. Ebenso wie man keine Obrigkeit loben kann, wenn sie vor den Missetaten aller Menschen die Augen verschließt, niemanden zurechweist, niemanden bestraft, ja vielmehr geduldig hinnimmt, daß alles drunter und drüber geht, bis Städte, Dörfer, Felder und Wälder voll von Räubern, Dieben, Mördern, Ehebrechern, Hurern, Betrügern und anderen Übeltätern sind: ebenso

 

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<15>cionatores omnia dissimulantes neque Deo neque hominibus probari possunt ac debent. Utque magistratuum gladius acutus esse debet eoque malis formidabilis, ita etiam philosophi vel divini verbi praeconis oratio hulcerosa morum atque animi pungere ac mordere debet. Quia igitur, clariss<ime>[15] Princeps, mala fidei dogmata atque superstitiones caeteraque vitia emendandi cavendique studio reprehendere, maledicum iurè dici nequit, sed est et utile ac necessarium Christique et prophetarum apostolorumque atque etiam aliorum sanctorum patrum exemplo comprobatum, rem non inconvenientem me facturum sum arbitratus, si hosce quinque Satyrarum libellos T<uae> C<elsitudini>[16] dedicarem, idque exemplo Francisci illius Philelphi, qui Satyras suas, qualescunque sunt, Alphonso Aragonum Neapolis et Siciliae regi, viro non rerum tantum bellicarum, verùm etiam literarum philosophiaeque peritissimo, dedicavit. Si tu quidem non

können und dürfen Prediger, die alles vertuschen, weder bei Gott noch bei den Menschen Beifall finden. Und wie das Schwert der Obrigkeiten scharf und dadurch den Bösen ein Schrecken sein muß, so muß auch die Rede des Philosophen oder dessen, der das Wort Gottes verkündigt, die Eiterbeulen an Lebensweise und Gesinnung aufstechen und ausbrennen. Da es also, durchlauchtigster Fürst, nicht mit Recht als Lästerung bezeichnet werden kann, verwerfliche Glaubenslehren und abergläubische Gebräuche und sonstige Fehler in der Absicht auf Besserung und Vorbeugung zu tadeln, sondern ebendies nützlich und notwendig und durch das Beispiel Christi und der Propheten und Apostel sowie auch anderer heiliger Väter bestätigt worden ist, ebendeshalb glaubte ich nichts Unziemliches zu tun, wenn ich die hier vorliegenden fünf Bücher mit Satiren Deiner Hoheit widmete, und zwar nach dem Vorbild des berühmten Franciscus Philelphus, der seine Satiren – so, wie sie sind – Alfons von Aragon, dem König von Neapel und Sizilien, gewidmet hat: einem Mann, der nicht nur in der Kriegskunst, sondern auch in der Literatur und Philosophie bedeutende Kenntnisse besaß. Wenn Du allerdings

 

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<16> esses Domini Iesu synceraeque religionis ac virtutum amator singularis nec diligeres iustitiam haberesque odio iniquitatem, tota aberrassem via, huiuscemodi tibi scriptum dedicando. Porrò, cum à multis fideque dignissimis viris acceperim, quantum tibi adhuc adolescenti verae sit studium pietatis, quantus probitatis integritatisque amor, quantus amplificandae conservandaeque sanae doctrinae atque adeò gloriae Christi fervor, quanta denique bonarum cura literarum, magna in spe sum, te nostrum hoc tenue munusculum non aspernaturum.
        Adiunxi autem his, haud scio quàm commodè, studio certè tibi gratificandi, duos de Animi tranquillitate libellos, unum Plutarchi à me recens Latinum factum, alterum Senecae: existimans, cùm omnibus hominibus, tum principibus maximè, animi tranquillitatem esse necessariam neque etiam melius quicquam in hac vita potest obtineri. Non ignoro, quantis,

dem Herrn Jesus, dem reinen Glauben und auch den Tugenden nicht außerordentlich zugetan wärest, wenn Du die Gerechtigkeit nicht lieben und die Ungerechtigkeit nicht hassen würdest, dann wäre ich damit, daß ich Dir eine derartige Schrift widmete, völlig vom Wege abgekommen. Da ich nun aber von vielen – und höchst glaubwürdigen – Männern erfahren habe, wie sehr Du, ein junger Mann noch, nach wahrer Frömmigkeit strebst, wie groß Deine Liebe zu Rechtschaffenheit und Lauterkeit ist, mit wie großer Leidenschaft Du Dich um die Ausdehnung und Erhaltung der rechten Lehre oder vielmehr den Ruhm Christi bemühst, wie groß schließlich Deine Fürsorge für die gute Wissenschaft ist, deshalb habe ich große Hoffnung, daß Du dieses mein bescheidenes kleines Geschenk nicht verschmähen wirst.
        Ich habe diesen Satiren ferner zwei Bücher über die Ruhe des Gemütes angefügt. Ob ich daran wohlgetan habe, weiß ich nicht, gewiß aber war ich bestrebt, Dir gefällig zu sein. Das eine ist von Plutarch (von mir kürzlich ins Lateinische übersetzt), das andere von Seneca. Die Gemütsruhe ist nämlich meiner Meinung nach für alle Menschen notwendig, in besonders hohem Maße aber für Fürsten, und nichts Besseres kann man in diesem Leben erlangen. Ich weiß wohl, mit wie großen

 

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<17> prae reliquis mortalibus, principes omnesque magistratus soleant molestiis obrui ac perturbationib<us>[17] utpote in summis versantes negotiis. Quare T<uae> C<elsitudini>[18] non ingratos neque inutiles fore spero hos libellos, quib<us>[19] animum ab adolescentia tuum ita instituere potes, ut nullis fortunae procellis, nullis hominum iniuriis et iniquitatibus perturbetur, sed recto statu ac tranquillè consistat in omnibus: quod tam T<uae> C<elsitudini>[20] quàm subiecto populo saluberrimum futurum est. Dominus Iesus T<uam> C<elsitudinem>[21] incolumem perpetuò ac tranquillam conservet, cui me humiliter commendo. Dat<um>[22] Stutgardiae, nono Martii. 1555.

Verdrießlichkeiten und Aufregungen die Fürsten und alle Obrigkeiten – mehr als die übrigen Sterblichen – gewöhnlich überschüttet werden, wie es nur natürlich ist bei denen, die mit wichtigsten Staatsgeschäften befaßt sind. Daher hoffe ich, daß diese Bücher Deiner Hoheit nicht unlieb und nicht ohne Nutzen sein werden. Mit ihrer Hilfe kannst Du Dein Gemüt von Jugend auf so erziehen, daß es durch keine Schicksalsstürme, keine menschlichen Ungerechtigkeiten und Unbilligkeiten in Unruhe versetzt wird, sondern sich in allen Lebenslagen in aufrechter Verfassung ruhig behauptet. Dies wird eines Tages ebenso Deiner Hoheit selbst wie Deinen Untertanen höchst zuträglich sein. Der Herr Jesus bewahre Deine Hoheit allezeit vor allem Übel und erhalte Dich in innerer Ruhe. Ihm empfehle ich mich in Demut.

Gegeben zu Stuttgart, den 9. März 1555

 


[1] ILLVSTRISS.   [2] clementiß.   [3] illustris.   [4] repub.   [5] rempub.   [6] T.   [7] C.   [8] T. C.   [9] T. C.   [10] nominib.   [11] reip.   [12] rempub.   [13] repub.     [14] manib.   [15] clariss.   [16] T. C.   [17] perturbationib.   [18] T. C.   [19] quib.   [20] T. C.   [21] T. C.   [22] Dat.

[i] Juvenal, Sat. 2,1-3. Zit. nach: Juvenal, Satiren, übertr. von Ulrich Knoche. München 1951, S. 31.
[ii] Juvenal, Sat. 2,23-28. Zit. nach ebd.
[iii] Cicero, Pro Caelio 78. Zit. nach: M. Tullius Cicero, Sämtliche Reden. Eingel., übers. u. erläut. von Manfred Fuhrmann. Bd. 6. Zürich, München 1980, S. 57.

Letzte Änderung: 08.03.2009

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