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Hansmeier: Hypermediale Programme


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2.4 Interaktive Lernprogramme für den Fremdsprachenunterricht

2.4.1 Entwicklung und Definition

Im folgenden werden einige interaktive Lernprogramme vorgestellt. Janet H. Murray, Douglas Morgenstern und Gilberte Furstenberg unterscheiden zwischen der Erzählung (interactice narrative) und der Dokumentation (inter-active documentary):

"The narrative and documentary modes serve different but highly complementary purposes and provide complementary learning paths for the foreign language learner. [...] A documentary allows students to be immersed in a completely culturally authentic environment and to receive a first-hand look at a specific cultural reality. Experiencing that cultural reality through discovery becomes the entire focus of the interaction, since there is no plot to uncover nor characters that address the students directly. In this way students are free to explore the material, on their own, in a much more deliberate and reflective fashion, thus allowing for more observational approach to language learning. [...] In comparison to documentary-based interaction, interactive fiction entails more meditation of reality and less authenticity of situation. Scripted fiction offers the greatest artistic and linguistic control; it also tends to offer less redundancy than authentic speech, and therefore can be especially challenging for learners" (Murray/Morgenstern/ Furstenberg 1989: 109-110).

Das Laboratory for Advanced Technology in the Humanities (LATH)(73) am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehört zu den wohl bekann-testen Entwicklern von interaktiven Lernprogrammen für den Fremdsprachen-unterricht. Pionierarbeit auf diesem Gebiet wurde an der Brigham Young Universität, Utah (USA), geleistet, an der 1981 das erste interaktive Videoprogramm für den fortgeschrittenen Anfängerunterricht in Spanisch – Montevidicso – entwickelt wurde.

Die Vorteile, die diese Programme für den Fremdsprachenunterricht bieten, werden von Murray, Morgenstern und Furstenberg, Entwicklern inter-aktiver Lernsysteme, beschrieben:

"[...] provide students with a sense of immersion that no other technology can duplicate, as the students are ‘surrounded’ by a multiplicity of language sources – video, stills, audio, graphics, texts – which allows them to see, hear, and read the language simultaneously. This variety of language sources has the advantage of recreating the multidimensional nature of language as it exists within the visual, social, and cultural world, allowing for immersion in the truest sense of the world. Furthermore, the very nature of interactive video technology provides students with a degree of involvement heretofore unparalleled, allowing them to manipulate the video at will, and even to interact directly with the characters in the story" (Murray/ Morgenstern/ Furstenberg 1989: 107).

Im LATH sind prototypische interaktive Lernprogramme für Französisch (A la rencontre de Philippe, das seit 1993 erhältlich ist und erfolg-reich an High-Schools, Colleges und Universitäten eingesetzt wird), für Spanisch (No recuerdo) und für Japanisch (Star Festival) erstellt worden, weitere befinden sich in der Entwicklung. Bei der Konzeption der Programme wird Sprache wie folgt definiert:

"a negotiable system of meanings, expressed and interpretated via the social interaction of reader and text, or between speakers in a culturally coded situation rather than as a closed system of formal lexical and grammatical rules" (Murray/Morgenstern/Douglas 1989: 89).

Anzumerken ist noch, daß es sich bei diesen Programmen um langfristige Forschungsprojekte handelt, deren Umsetzung durch finanzielle Unterstützung mehrerer Organisationen ermöglicht wurde. Die im folgenden skizzierten Lernsysteme unterscheiden sich in ihrem Grad der Interaktivität, der unter anderem auch von der benutzten Software beeinflußt wird. Die Interaktion mit einem Computer kann nicht mit der Mensch-Mensch-Interaktion gleichgesetzt werden. Der Begriff Interaktivität wird hier wie bei Baumgartner/Payr (1994) benutzt. Der Benutzer bleibt nicht Rezipient, sondern nimmt aktiv am Kommunikations- und Lernprozeß teil. Er wirkt bei der Gestaltung des Materials, der Inhalte mit und bestimmt auch die Zeitdauer seiner einzelnen Lernphasen (Baumgartner/Payr 1994: 128).

2.4.2 Ein Beispiel für ein narratives interaktives Programm

Die bekannteste interaktive Erzählung ist A la rencontre de Philippe, ein Lernprogramm für den fortgeschrittenen Französischunterricht, das in Paris gedreht wurde. Die Skripte verfaßte Gilberte Furstenberg in Zusammenarbeit mit französischen Filmemachern und französischen Schauspielern.

Die Aufgabe des Lernenden in A la rencontre de Philippe ist, Philippe, einem jungen freiberuflichen Journalisten, bei der Wohnungssuche in Paris zu helfen. Die Handlung erstreckt sich über den Zeitraum eines Tages.

In der ersten Videosequenz begleitet der Lerner Philippes Freund, Antoine, ins Café, um dort Philippe zu treffen. Der Benutzer wird dort Zeuge eines Streites zwischen Philippe und seiner Freundin Elisabeth, in dessen Verlauf sie Philippe aus ihrer Wohnung wirft und auch die bestehende Bezie-hung abbricht. Antoine gibt ihm daraufhin einige Tips bezüglich der Wohnungssuche. Philippe bleibt jedoch trübsinnig und gedankenvoll im Café sitzen. Er wendet sich in dieser Situation an den Lerner, er adressiert ihn, indem er in die Kamera blickt, und bittet diesen um seine Unterstützung bei der anstehenden Wohnungssuche. Der Lerner wird zum Mitsuchenden und nimmt ab sofort aktiv an der Handlung teil: Er kommuniziert mit Philippe, antwortet auf seine Fragen, trifft Entscheidungen, experimentiert mit diesen und verändert dadurch die Handlung der Geschichte. Insgesamt gibt es sieben Möglichkeiten, die Wohnungssuche zu einem für Philippe mehr oder weniger erfolgreichen Ende zu führen. In fünf Varianten findet der Lerner eine Wohnung für Philippe, in einer anderen Möglichkeit führen die vom Lerner getroffenen Entschei-dungen sowohl zu einer erfolgreichen Wohnungssuche als auch zu einem Happy End zwischen Philippe und Elisabeth. In der siebten Möglichkeit wird der Lerner von Philippe aufgefordert, an den Anfang zurückzukehren, "Well, back to square one!", da er ihm weder bei der Wohnungssuche noch in Sachen Liebe/Beziehung helfen konnte.

Bei der Wohnungssuche kann der Lerner die Wohnungsangebote des Figaro in Anspruch nehmen, mit Maklern telefonieren oder sie in ihren Büros kontaktieren. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, Anschlagtafeln, die sich in Bäckereien befinden, auf in Frage kommende Angebote abzusuchen. Der Lerner schaut sich Appartements an, hinterläßt Nachrichten für Philippe und hört seinen Anrufbeantworter ab. Bei allen Aktivitäten stehen ihm umfangreiche Verständnishilfen zur Verfügung, die bei Wunsch und nach Bedarf in Anspruch genommen werden können; die Videosequenzen können beliebig gestoppt und wiederholt werden, Transkripte der Dialoge, kurze Inhaltsangaben der nächsten Sequenz – visuell oder verschriftlicht – können abgefragt werden. Auf der zweiten Tonspur befindet sich eine im Studio aufgenommene langsamere Version der Dialoge. Bei Wort- und Ausdrucksunklarheiten stehen ein Glossar und eine Grammatikübersicht zur Verfügung.(74) Im Glossar erscheint die Wortbedeutung oder die Bedeutung des idiomatischen Ausdruckes in Französisch. Auf der linken Seite des Fensters wird sie einzeln und auf der rechten Seite wird das Wort in den jeweils unterschiedlichen situativen Kontexten aufgeführt, in denen sie im Video benutzt werden. Gelegentlich werden die Phrasen auch mit ihren landeskundlichen, historischen Kontexten im Glossar aufgenommen. Zum Beispiel wird die Redensart "Paris vaut bien une messe", mit der Philippe auf Antoines Vorschlag antwortet, die Beziehung mit Elisabeth wiederaufzunehmen, um kein Appartement suchen zu müssen, im Glossar historisch erklärt. Der Lerner erfährt, daß König Henri IV (1559-1610) sie anwendete, als er erkannte, daß er, um seinen Thron zu retten, zum Katho-lizismus konvertieren müßte. Heutzutage angewendet signalisiert sie Kompro-mißbereitschaft.

Die folgenden Bildschirmseiten zeigen das Main Window (Hauptfenster), das das Zentrum jeglicher Interaktion des Lerners mit der Geschichte ist, und das Review Window (Fenster mit den Wiederholungs-aufgaben) mit seinen aufgelisteten Möglichkeiten (Furstenberg/ Malone 1993b). Die Ikonen auf der linken Seite des Main Windows bezeichnen die Optionen, die dem Lernenden während der Wohnungssuche zur Verfügung stehen: eine Uhr, ein Notizbuch, ein Stadtplan von Paris, ein öffentliches Telefon, eine Zeitung und eine Aktenmappe. Durch das Anklicken einer der Ikonen öffnet sich ein anderes Fenster, das weitere Informationen gibt. Beim Anklicken z.B. der Ikone Notizbuch öffnet sich ein Fenster, das ein Notizbuch enthält, das wiederum die Unterteilungen Appartements (Appartements) und Notes (Notizen) enthält. In einer Rubrik führt der Lerner Buch über potentielle Wohnungen für Philippe, die andere steht ihm für Anmerkungen, Kommentare jeglicher Art zur Verfügung. Das untere Feld wartet mit zusätzlichen Verständnishilfen auf. Mit Revoir aktiviert der Lerner das Review Window, das aus drei Fenstern besteht, mit dem der Lerner das Video im Detail wiederholen kann, wobei ihm umfangreiche Texthilfen zur Verfügung stehen. In dem unteren Feld des Review Windows sind die Möglichkeiten zur Kontrolle des Videos aufgelistet, die dem Lerner schon von der Bedienung eines Video-rekorders bekannt sind: Vor- und Zurückspulen, Spielen und Anhalten. Das mittlere Feld bietet dem Lernenden die Alternative, die Videosequenzen Satz für Satz zu wiederholen. Zur Auswahl stehen das gerade, das vorherige Gehörte und das als nächstes zu Hörende. Das obere Feld wartet dabei mit französischen Untertiteln auf, entweder in Form von Schlüsselwörtern oder einer vollstän-digen Transkription der Videosequenz. Durch Aktivierung des Glossaire-Knopfs (Glossar) werden wichtige Wörter und Phrasen unterstrichen und ihre Erklärungen gegeben. Der Auto-Tester bietet die Möglichkeit der Selbst-überprüfung des Lerners durch Tests, die ihm nach jeder Videoeinheit angebo-ten werden. Hinter dem Fragezeichen, das sich in der Mitte des Fensters befindet, verstecken sich Vorschläge, Hinweise bezüglich eines nächsten zu unternehmenden Schrittes. Die zwei Knöpfe Voir préambule und Lire préambule vidéo geben eine kurze schriftliche oder visuelle Vorschau auf den nächsten Abschnitt der Geschichte. Von den in der Mitte des Fensters angesiedelten Antworten ist immer eine auszuwählen, die dann über den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidet.

A la rencontre de Philippe ist interaktiv gestaltet: die Lerner nehmen aktiv, durch die Entscheidungen, die sie treffen, an der Entwicklung der Geschichte teil. Es gibt dabei für sie weder falsche noch richtige Antworten, nur Konsequenzen, die aus den getroffenen Entscheidungen resultieren, von denen einige eher zum Ziel führen als andere. Die Lerner lernen durch die Aufgabe, nicht nur ein Appartement für Philippe zu finden, sondern auch einen Teil seines Lebens kennen. Die Lerner tauchen in eine ihnen fremde Kultur ein, in die sie aktiv durch ihre Aufgabenstellung integriert werden. Die folgenden zwei Abbildungen zeigen das Main und Review Window mit ihren Angeboten.

Anhand eines Flußdiagramms wird exemplarisch gezeigt, wie das Programm aufgebaut ist.

2.4.3 Beispiele für dokumentarische interaktive Programme

Das Genre der Dokumentation wird exemplarisch an Dans un quartier de Paris,(75) einem Programm für Französisch, mit dem der Lerner die Geschichte und die Kultur von St. Gervais, einem der ältesten Viertel von Paris, entdecken kann, und an Berliner sehen [-A hypermedia documentary for the study of German culture and literature-], einem Lernprogramm für Deutsch als Fremdsprache, dessen Videoaufnahmen im Sommer 1995 in Berlin gefilmt wurden, dargestellt.

In Dans un quartier de Paris wird der Lerner eingeladen, die Mikrowelt eines der ältesten Viertel von Paris aus unterschiedlichen Perspektiven und durch interdisziplinäre (geographische, architektonische, räumliche, historische, soziologische) Augen zu entdecken.

"The traditional boundaries between disciplines such as language, history, literature, art thus disappear, and language becomes more and more, not an end in itself, but a tool, an entry point, an access into a foreign world" (Furstenberg 1995).

Der Lerner trifft die unterschiedlichsten Bewohner dieses Quartiers und besichtigt Straßen und Gebäude, die das Alltagsgeschehen dieser Bewohner mitbestimmen. Er wird mit Themen konfrontiert, die das Leben der Bewohner wesentlich beeinflußt haben, wie z.B. die Rolle des Rathauses und die der Stadtteilsanierung. Dieser Einblick stattet den Lerner mit dem notwendigen Wissen aus, um das Selbstverständnis seiner Bewohner und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Vierteln einordnen und verstehen zu können.

Bei der Erkundung dieser Mikrowelt kann der Lerner verschiedene Pfade zur Entdeckung des Quartiers einschlagen und dabei vielfältige Hilfs-mittel in Anspruch nehmen. Ein Plan des Viertels hilft ihm, Plätze zu lokalisieren. Das Viertel wird von ihm aus der Perspektive eines Fußgängers erkundet. Er hat die Möglichkeit, sowohl vorwärts als auch rückwärts, nach rechts oder links zu gehen. Hier wird die Methode des surrogate travel (76) benutzt, die auch als movie map (77) bekannt ist. Strukturierte Informationen findet er in dem Reiseführer. Ein historischer Führer enthält historische Texte und Abbildungen, die dem Lerner die Entwicklung und die Geschichte des Viertels veranschaulichen sowie das gegenwärtige Alltags- und Kulturleben näherbringen. Auf seinem Spaziergang trifft der Lerner auf Zeichen, die ihn darauf aufmerksam machen, daß an dieser Stelle historisches Material integriert ist. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die der Lerner bei dem Erkunden, dem Entdecken dieser dargestellten Mikrowelt macht, kann er in multimedialer Form (als Videosequenz, Abbildung, als Text jeglicher Form) im Notizbuch ablegen und speichern. Dadurch bleibt er nicht nur Konsument der ihm angebotenen Vielfalt der Materialien, sondern kann diese manipulieren und eigene Verbindungen zwischen ihnen herstellen. Er setzt sich aktiv und kritisch mit dem Material auseinander.

Berliner sehen (78) ist ein interaktives Dokumentarprogramm (79) für Deutsch als Fremdsprache, das im LATH entwickelt wird.

"It will immerse students of German in the daily lives of current residents and the rich social, political and cultural history of that formerly divided city" (MIT Tech Talk December 7, 1994: 3).

Das Programm liegt in Form einer Demonstrationsversion vor. Berliner sehen ist ein flexibles und offenes System; in die Datenbank des Systems kann eigenes, neues Material integriert werden, und das Programm bietet unter-schiedliche Arbeitsmöglichkeiten. Um die Trennung zwischen Autor und Benutzer aufzuheben, die Kreativität, die Interaktivität des Lernenden und die individuellen Lernstrategien zu fördern, kann Berliner sehen als Datenbank genutzt werden. Der Lernende kann das enthaltene Material, z.B. Video-sequenzen, in eine eigene Datei kopieren und es nach eigenen Fragestellungen umstellen und mit anderen Dokumenten ergänzen. Diese Minidokumente, die eine neue Perspektive zeigen, bereichern die Datenbank und sind damit auch anderen Lernern zugänglich. Der Lerner kann auch eine der im Programm auftauchenden Personen auswählen und für diese einen neuen Lebenslauf zusammenstellen.

Berliner sehen ist für unterschiedliche Sprachniveaus und Lernertypen konzipiert worden (Croecker/Fendt 1991:27). Die Autoren ließen sich bei der Konzeption ihres Projektes von folgenden Fragestellungen leiten:

"How can students learn about another culture if they have never experienced it? How can they get beyond the limits of their own cultural constructs? How can they aquire strategies for understandings?" (Croecker/Fendt 1991: 26)

Das Programm basiert auf Gesprächen zwischen Berlinern, die sowohl im westlichen als auch im östlichen Teil Berlins leben. "Vor dem Hintergrund der ihr Privatleben beeinflussenden Umbruchsituation in ihrem alltäglichen Umgang mit anderen Menschen" nehmen sie Stellung zu Themen wie Lebensbedingungen, Einkaufsverhalten, Freizeitverhalten, Arbeit etc. In den Unterhaltungen spiegeln sich die Einstellungen der Einzelnen; diese präsen-tieren und konfrontieren den Lernenden mit einer Perspektivenvielfalt, die er mit Hilfe anderer Materialien kontextualisieren kann. Die Stellungnahmen werden durch historische und aktuelle Dokumente, Fotos und Ausschnitte aus Fernsehnachrichten, Magazinen und Dokumentarfilmen ergänzt (Fendt 1993: 27). Diese Informationsquellen ermöglichen dem Lerner, bestehende Hypothesen zu überprüfen und selbständig landeskundliche Einsichten und Wissen zu erwerben. Der Lerner bestimmt selbst, welche der integrierten Materialien er zur Klärung eines Sachverhaltes heranzieht, welche durch die Gespräche aufgeworfenen Fragestellungen er verfolgen möchte und inwieweit er sich in die einzelnen Dokumente vertieft. Der Lerner verfügt in Berliner sehen, wie in den anderen vorgestellten Programmen auch, über die Kontrolle des Videos. Er sequenziert, wiederholt und spult weiter, je nach Bedarf und Wunsch. Umfangreiche Verstehenshilfen, die in Deutsch vorliegen, und eine zweite Tonspur erleichtern die Aufnahme des Gesehenen und Gehörten.

In Berliner sehen lernt der Benutzer sechs Berliner kennen, die in den jeweiligen Videosequenzen mit wechselnden Kommunikationspartnern aus ihrer Nachbarschaft, ihrem Kiez auftreten. Bei den Hauptpersonen, die zu Beginn des Programmes im oberen Teil der rechten Seite erscheinen, handelt es sich um Herrn Tab, einen früheren Parteifunktionär der ehemaligen SED, um Annette, eine alleinerziehende Mutter, die Bäckerin und Mitbesitzerin einer Bäckerei ist und in einem Kiez des westlichen Teils der Stadt wohnt. Jasmine, auch alleinerziehende Mutter, wohnt dagegen in einem Kiez im anderen Abschnitt der Stadt. Kostja, der jetzt für die Öffentlichkeitsarbeit der Synagoge zuständig ist, war zu Zeiten der DDR Leiter einer populären Radiosendung. Jana, Kostümdesignerin, wuchs in Ostberlin auf, das sie jedoch vor dem Fall der Mauer verließ. Sie lebt im Westen Berlins und ist eine Nachbarin Annettes. Jochen, Kostjas Stiefsohn, beendete gerade die Schule und möchte die Akrobatenschule besuchen.

Im unteren Teil der rechten Bildschirmseite sind acht Aspekte angesie-delt (Ich, Beziehungen, Öffentliches, Andere, Kiez, Privates, Vergangenes, Tun und Machen, Zeitliches), die der Lerner u.a. ‘durch die Augen’ und in Bezie-hung mit einer der Personen erfährt. Durch die Aktivierung, das Anklicken einer Person und eines der Gesichtspunkte erscheinen auf der Peripherie der rechten Bildschirmseite alle im Programm integrierten Materialien, die diesen Aspekt in Verbindung mit der Person beinhalten. Bei aktivierten Dokumenten, die auch in einem anderen Aspekt wiederzufinden sind, wird dieses durch das Unterlegen des betreffenden Gesichtspunktes angezeigt. So wird z.B. bei einem in der Peripherie erscheinenden historischen Dokument die vorhandene Beziehung zu dem Punkt ‘Vergangenes’ angezeigt. Der Lerner kann diesen anklicken, um mehr zu diesem Thema zu erfahren, wobei sich die Peripherie verändert. Durch einen Doppelklick verwandelt sich die Bildschirmseite in eine Arbeitsfläche für den Benutzer, wo er seine Ideen, Gedanken und Materialien und Notizen ablegen und sammeln kann.

Da dieses Programm über das Internet im World Wide Web zur Verfügung stehen wird, wird es eine sehr große Verbreitung finden. Internet-reisende Lerner, Institutionen in der ganzen Welt können ihre Dokumentationen und Perspektiven untereinander austauschen und via E-Mail und Chat-Foren direkt miteinander kommunizieren. So könnten z.B. japanische Deutschlerner mit Schülern in Berlin über das Gesehene und Gehörte diskutieren.

2.4.4 Beispiele für narrative dokumentarische interaktive Programme

In No recuerdo, einem Lernprogramm für fortgeschrittene Spanisch-lerner und in Star Festival, einem Programm, das das Alltagsleben in Japan präsentiert, wurden die Gattungen Erzählung und Dokumentation verbunden.

"No recuerdo follows the tradition of Latin American ‘magical realism’ by incorporating fantasy elements into the story, and makes use of the cinematic conventions of video and audio flashback to enrich the story-telling" (Morgenstern/Murray 1995: 35).

Der Lerner schlüpft in die Rolle eines ausländischen Reporters, der sich in Bogotá auf der Suche nach Material für einen Leitartikel befindet, den er in Spanisch für seinen Chefredakteur verfassen muß. Dabei hat er die Wahl zwischen vier Chefredakteuren, die unterschiedliche journalistische Erfah-rungen und Perspektiven haben, ihre Marotten und Launen zeigen, die den Lerner mehr oder weniger bei seiner journalistischen Mission behindern. Der Lerner in der Rolle des Reporters kommuniziert mit seinem Chefredakteur via Fax und empfängt ermunternde, bestärkende oder ablehnende Rückmeldungen.

Um die ihm auferlegten journalistischen Aufgaben adäquat erledigen zu können, steht dem Lerner eine Palette von Hilfsmitteln zur Verfügung. Die Ikonen, die auf der linken Seite des Bildschirmes zu sehen sind, verschaffen dem Lerner Zugang zu einem Faxgerät und einem Archiv, das zusätzliches landeskundliches Material von diversen lateinamerikanischen Autoren und generelle Artikel über Journalismus, Wissenschaft und Modellreportagen enthält. In einem Tagebuch kann der Reporter die Ereignisse seiner Geschichte festhalten, und ein Stadtplan ist ihm bei dem Finden und Erkunden diverser Plätze behilflich. Auf zwölf simulierten Entdeckungstouren durch Bogotá lernt er verschiedene Viertel und Gegenden dieser Stadt kennen und hat die Chance, die dort lebenden Menschen mit ihren unterschiedlichen sozialen Hintergründen zu interviewen. Der Lerner trifft u.a. auf Studenten, Schulkinder und Lastwagenfahrer.

In No recuerdo wurden narrative und dokumentarische Elemente verbunden, um die Authentizität und die Motivation der Lerner zu erhöhen:

"Completely authentic language is used in documentary segments that include interviews with people on the street, and in the commercials recorded from Columbian television. Even the fictional portion of ‘No recuerdo’ was not produced using a memorized teaching-oriented script. Instead native speakers portraying the fictional characters improvised their lines, using their own language to express the content of each scene" (Morgenstern/Murray 1995: 35).

Der Lernende, in der Rolle des Reporters, geht über einen Platz in Bogotá. Vor einem Schaufenster, vor dem schon eine Menschentraube steht, bleibt auch er stehen. In dem Schaufenster, das mit einem Fernseher ausgestattet ist, werden gerade die Nachrichten übertragen. Der Nachrichtensprecher ver-kündet, daß der weltbekannte Mikrobiologe Dr. Restrepo Gonzalo, der in Bogotá an einer Konferenz teilnehmen sollte, auf mysteriöse Weise verschwun-den ist. Die Handlung setzt wieder ein, als der Lerner einige Wochen später erfährt, daß Gonzalo wieder aufgetaucht ist. Er war in einen Autounfall verwickelt und leidet unter Amnesie. Der Lerner beobachtet Gonzalo in Gesprächen mit venezuelanischen Kollegen, die erfolglos versuchen, seine Gedächtnislücke aufzufüllen. Er selbst führt auch Interviews mit Gonzalo, um ihm bei der Rekonstruktion der Ereignisse vor dem Autounfall behilflich zu sein.

Er befragt ihn zu generellen Themen wie Wetter, Reisen, Essen, Musik etc. und vermeidet direkte Fragen, da dieses in spanischsprechenden Ländern als unhöflich gilt. Die Gespräche zwischen Gonzalo und dem Reporter stellen sich als fruchtbar heraus, da Gonzalo sich mit der Zeit an immer mehr erinnert. Der Lerner findet heraus, daß der Wissenschaftler Gonzalo im Laufe der Jahre durch Forschung und Experimente eine Mikrobe entwickelte, die physische Schmerzen nimmt. Dieser Mikroorganismus ist jedoch höchst ansteckend und verursacht Amnesie.

Abhängig von den Entscheidungen, die der Reporter während der simulierten Konversation trifft, verzweigt sich die Handlung in verschiedene Richtungen. Die romantische Variante führt dazu, daß Gonzalo sich an seine erste Liebe, dann an seine mexikanische Ehefrau und schließlich an die Bezie-hung mit Elena, einer Kolumbianerin, die seine Arbeit und ihn bewundert, erinnert. Eine "Abenteuer"-Version präsentiert Gonzalos Darstellung der Ereignisse. Elena als Verbrecherin versucht, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Sie ist in seine Entführung verwickelt, bereut dieses dann und flieht mit ihm vor seinen Entführern. Ein anderer Pfad beschreibt Elenas Version ihrer Beziehung zu Gonzalo. Elena erzählt über ihre Reisen ins Amazonasgebiet und läßt den Lerner an ihrem Leben teilnehmen. Sekundär auftretende Charaktere unter-stützen entweder die eine oder die andere Variante der Geschichte.

Die Entscheidungen des Reporters führen zu unterschiedlichen End-situationen: eine Endsequenz zeigt das desorientierte und auffällige Verhalten der Personen auf den Straßen. Dies deutet auf eine Amnesieplage hin, die aus den jahrelangen Versuchen Gonzalos resultiert. In einer anderen Schlußsequenz begleitet der Lernende Gonzalo zu den Orten, wo er das genetisch gefährliche Material versteckt hält und nimmt an seiner Erleichterung teil, als dieser feststellt, daß sich dort noch alles - unberührt - befindet.

In No Recuerdo, vergleichbar mit A la recontre de Philippe, bestimmt der Lerner durch seine Handlungen, den weiteren Verlauf der Geschichte. Er ist aktiv, wählt zwischen dem ihm Angebotenen aus, trifft somit Entscheidungen, die auch Konsequenzen mit sich bringen.

Star Festival (80) ist eine interaktive Dokumentation und Fiktion, die sowohl für den Sprach- und Landeskundeunterricht des Japanischen als auch für Lerner, die sich für die japanische Kultur, Sprache und für interkulturelle Themen interessieren, konzipiert wurde. Alle Materalien sind mit englischen Untertiteln, die Interviews mit englischen Filmkommentaren, versehen. Das Programm Star Festival möchte das Alltagsleben von Japanern und die japanische Sprache westlichen Kulturen zugänglich machen, exemplarisch

dargestellt an der persönlichen Geschichte des MIT (Massachusetts Institute of Technology)-Professors Miyagawa. Diese Materialien sind in eine interaktive Geschichte eingebaut, in der Professor Miyagawa, ein Japaner, der als Zehnjähriger seine Heimatstadt Hiratsuka verließ, jetzt Professor am MIT, nach 30 Jahren Aufenthalt in den USA wieder in seine Heimat zurückkehrt, um seine Herkunft zu erkunden. Dieser sammelte eine Woche unterschiedliche Materialien auf seinem PDA (seinem Personal Digital Assistant), auf die er während seiner Suche nach seinen ‘Wurzeln’ stieß.

Die Geschichte beginnt an dem Morgen nach dem Star Festival. In dem Gedränge der Menschenmasse läßt Professor Miyagawa seinen PDA fallen. Der Lerner entdeckt diesen auf der Straße und damit beginnt seine Reise in dessen Fußstapfen. Dabei stellt der Lerner fest, daß der Aufnahmemodus des PDA nicht mehr funktioniert.

In diesem Programm sind spontan geführte Interviews, Graphiken, Photos, traditionelle Musik, dokumentarische Videosequenzen und Text-informationen über die japanische Sprache und Kultur verbunden worden. Interviewt wurden z.B. eine ca. sechzigjährige Frau, die über ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges berichtet, ein Shinto-Priester, der dem Lerner seinen Shinto-Schrein zeigt und diesen erklärt und ein Fischer und seine Frau auf dem Fischmarkt, die die Schwierigkeiten von Fischerfamilien und ihre Wünsche für ihr Kind schildern. Desweiteren erlebt der Lerner eine Familie, die ein Obstgeschäft führt, die Veränderungen in der Nachbarschaft und auch in ihrer Kundschaft beobachtet und schildert, und einen Geschäftsinhaber, der seine kunstvollen Dekorationen, die er für das Tanabata Stern Fest (81) vorbereitet, beschreibt. Alle diese Personen hatten Kontakt mit Miyagawas Familie. Die Interviews sind mit Videosequenzen durchsetzt, die dem Lerner die kulturelle Umgebung der Interviewten näherbringen. Kulturell, sozial und historisch wichtige Themen werden in den Interviews angesprochen,(82) wie z.B. die japanische Familienstruktur, die in dem Interview auf dem Fischmarkt und im Obstgeschäft thematisiert und illustriert wird. Die Frau in den sechzigern und der Geschäftsbesitzer, der um die fünfzig ist, schildern ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges. Detaillierte geschichtliche und kulturelle Anmerkungen (Field notes) im Hypertextformat sind abrufbar. Der integrierte computergenerierte Stadtplan von Hiratsuka bietet dem Lerner das Kennen-lernen der Stadt zu unterschiedlichen Epochen an, z.B. während des Zweiten Weltkrieges, der Meiji-Zeit und zur Gründungszeit des Shintoismus.

Die folgenden Abbildungen zeigen den Aufbau dreier verschiedener Bildschirmseiten von Star Festival. In dem unteren linken Teil des Bild-schirmes befinden sich die Auswahlmöglichkeiten des Benutzers, die aus dem ‘Herumschmökern’ (Browse), der Suche (Search), einem Stadtplan von Hiratsuka (Map) und der Aufnahme (Record) bestehen, die jedoch nicht mehr funktioniert, da sie bei dem Fall des PDA kaputtging. Die beiden Anzeigen, die darüber liegen, zeigen, wann und um wieviel Uhr Professor Miyagawa z.B. das Interview zwischen dem Fischer und seiner Frau gemacht hat. Die beiden obersten Knöpfe bieten die Optionen Datum (Date) und Uhrzeit (Time) oder wie in der letzten Abbildung, in der es sich um einen Platz handelt, die Richtungsanweisungen Links und Rechts (Left & Right), Oben und Unten (Up & Down), die je nach Interesse aktiviert werden können. Der kleine Bildschirm gibt an, welches Material abgerufen wurde.

In der ersten Abbildung ist die Bildschirmseite des Interviews mit dem Fischer und seiner Frau zu sehen. Dem Benutzer stehen alle üblichen Video-funktionen zur Verfügung (Vor- und Zurückspulen, Standbild). Er hat außerdem noch die Optionen, dem Interview in Englisch oder im Original, in Japanisch, zu lauschen. Die unterhalb des Standbildes zu sehende Transkription ist eine Mischung aus Hiragana und Katakana.(83) Für diese Variante steht der dritte Knopf von links in der Knopfleiste. Der zweite Knopf bietet dem Lerner Kanji an, die geschriebene Sprache des Japanischen.

Die folgende Abbildung zeigt eine weitere Bildschirmseite, die zu dem Interview des Fischers und seiner Frau gehört und die dem Lerner kulturelle und historische Informationen (Field Notes) offeriert.

In der letzten Abbildung befindet sich der Lerner am Hauptbahnhof und seiner Umgebung, die er durch die schon erwähnten richtungsweisenden Knöpfe näher erkunden kann.

In Star Festival beschränkt sich die Interaktivität, im Gegensatz zu den anderen bisher beschriebenen hypermedialen Lernprogrammen, auf die Auswahl der Materialien, das Herumschmökern. Der Lerner hat jedoch keine Möglichkeiten, das Vorhandene zu manipulieren, nach eigenen Interessen um-zustrukturieren oder Anmerkungen beizufügen; er bleibt lediglich Konsument der ihm angebotenen Materialien.(84)


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