Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Neue Wohngebiete


Erklärtes Ziel der Planungsbehörden ist es, durch die Bereitstellung von attraktiven innerstädtischen Wohngebieten die Abwanderung vor allem der Familien in die Umlandgemeinden gering zu halten und eine weitere Zersiedelung der Landschaft durch Neubaugebiete einzudämmen (vgl. Landeshauptstadt Erfurt 1996). Nach derzeitigem Stand steht allerdings zu befürchten, daß die größtenteils von privaten Investoren finanzierten suburbanen Wohnsiedlungen (vgl. Kap. 4.5.1) relativ bald fertiggestellt sein werden, während für die Umgestaltung der gründerzeitlichen Bebauung von einem Planungs- und Realisierungszeitraum von 10 bis 20 Jahren ausgegangen werden muß.    
     
Der Wohnungsbau war in den Jahren nach der Wende in Erfurt zunächst nahezu völlig zusammengebrochen. Die Zuwächse lagen 1990 unter 100 WE, 1991 bei 150, 1992 bei 250 Wohneinheiten. Neben den allgemeinen Problemen des Übergangs und den fehlenden Reserven der stadttechnischen Infrastruktur werden hierfür vor allem die ungeklärten Eigentumsansprüche geltend gemacht (vgl. THOMANN 1994a, S. 13). Zum Stichtag 31.12.1992 waren etwa 38.000 Erfurter Grundstücke und Immobilien mit Reprivatisierungsansprüchen belegt.    
     
Eine 1993 durch das Amt für Stadtentwicklung, Statistik und Wahlen erstellte Wohnungsbedarfsprognose ermittelte einen Wohnungsbaubedarf von etwa 25.000 Einheiten bis 2010 bzw. 12.000 bis 2000 (vgl. Tab. 14). Als Hauptposten werden dabei zum einen der aus einer Verringerung der Belegungsdichte resultierende Nachholbedarf und zum anderen der Ersatz überalterter oder umgewidmeter Wohnungen genannt. Andere Berechnungen, die vom durchschnittlichen Wohnflächenbedarf in vergleichbaren westdeutschen Großstädten ausgehen, ergeben einen Wohnungsbaubedarf von 1,5 Mio. Quadratmetern bzw. 18.750 Wohneinheiten bis 2000 (vgl. NEHREN 1995, S. 28).   Tab. 14: Wohnflächenbedarf in Erfurt bis 2010
Bedarfsfaktor

Wohnungs- bedarf

Veränderung der Wohnungsbelegungsdichte

11.000

Ersatz überalterter, umgewidmeter oder zusammengelegter Wohnungen (inkl. 0,3 % Abriß pro Jahr)

10.000

Leerwohnreserve

2.500

Zunahme der Haushalte

1.200

Erfurt insgesamt

24.700

Quelle: THOMANN (1994a, S. 6); Landeshauptstadt Erfurt, Amt für Stadtentwicklung, Statistik und Wahlen

     
Nach Berechnungen des Stadtplanungsamtes (Landeshauptstadt Erfurt, Baudezernat 1994b) verfügt die Stadt Erfurt mittelfristig über eine Wohnbaureserve von etwa 14.000 Wohneinheiten. Betrachtet man die Verteilung der sich in unterschiedlichen Realisierungsstadien befindlichen Wohnungsneubaustandorte (vgl. Abb. 36), so wird deutlich, daß sich der Entwicklungsschwerpunkt am Rand der Innenstadt sowie im engeren Ring der Vororte befindet. Neben den großen Vorhaben in der Brühlervorstadt (ca. 2.020 WE), der Andreasvorstadt (ca. 700 WE), der weiteren Altstadt (ca. 700 WE), Ilversgehofen (ca. 530 WE) und der Löbervorstadt (ca. 530 WE), fällt vor allem der östlich der Innenstadt gelegene Stadtteil Ringelberg ins Auge, der nach Fertigstellung etwa 2.800 Wohneinheiten umfassen soll. In den eingemeindeten Ortsteilen sind derzeit weitere 3.620 Wohneinheiten auf Neubaustandorten und etwa 360 Wohnungszuwächse durch Um- und Ausbauten geplant oder bereits genehmigt. Gemessen an den erteilten Baugenehmigungen (vgl. Tab. 15) nähert sich der innerstädtische Wohnungsbau nur langsam an die höheren Werte der Umlandgemeinden an, wo das Schwergewicht des Wohnungsbaus durch Ein- und Zweifamilienhäuser gestellt wird. Während die durchschnittliche Größe der zu bauenden Wohnungen in der Stadt 1993 etwa 70 m² betrug, lag sie im Landkreis mit 86 m² deutlich höher. Somit kann die Stadt Erfurt weder quantitativ noch qualitativ ein der Nachfrage entsprechendes Angebot in Zukunft offerieren, wobei Kostenüberlegungen der Haushalte bei Wohnstandortentscheidungen noch nicht einbezogen sind (vgl. Herfert 1996, S. 45). Es zeigt sich immer deutlicher, daß zwar aufgrund der großzügigen Fördermaßnahmen (50 % Sonderabschreibung) vor allem in den randlich gelegenen Stadtteilen ein deutlicher Zuwachs an hochwertigem Wohnraum zu verzeichnen ist. Dem steht jedoch eine unverändert hohe Nachfrage nach preisgünstigen Wohnungen mit gutem Standard gegenüber. Der leichte Rückgang der Zahl der Baugenehmigungen im Jahr 1995 dokumentiert das bevorstehende Ende der ersten Investitionswelle im suburbanen Raum der neuen Länder.    
     
In den Jahren 1990 bis 1995 wurden im erweiterten Stadtgebiet etwa 116 ha Bauland für ca. 2.300 Wohnungen ausgewiesen. Legt man die bereits genehmigten Bebauungspläne zugrunde, können weitere 221 ha mit ca. 6.270 WE zukünftig bebaut werden. Interessanterweise liegt der Schwerpunkt mit 139 ha bzw. 4.680 WE im alten Stadtgebiet gegenüber 82 ha bzw. 1.590 WE in den eingemeindeten Stadtteilen, was sich v. a. durch das Ringelberggebiet (110 ha/ 2.800 WE) erklären läßt. Betrachtet man die noch nicht abgeschlossenen Planungsverfahren, könnten – überwiegend in den neuen Stadtteilen – maximal weitere 295 ha mit ca. 9.700 WE bebaut werden (vgl. Landeshauptstadt Erfurt 1996).    
     
Die Realisierung der Ein- und Mehrfamilienhauswohngebiete durch Developer und Immobiliengesellschaften führt im Regelfall zu einer sehr gleichförmigen Gestaltung der neuen Siedlungsteile. Treffend beschreibt der Schriftsteller Martin Stade (1995, S. 148): "Aber ich müßte doch zugeben, redet man auf mich ein, daß viele hübsche Einfamilienhäuser gebaut werden, kaum ein Dorf sehe man, wo nicht Dutzende solcher Häuser entstanden seien. Ja, es ist wahr, es ist vieles derartiges geschehen und ich staune, daß es trotz Arbeitslosigkeit und schlimmer Zukunftsbefürchtungen Leute gibt, die sich ein eigenes Heim leisten können. Schaut man aber nun genauer hin, dann kommt es einem vor, als kämen diese Behausungen alle aus ein und derselben Retorte. Es muß irgendwo in Süd- oder Westdeutschland eine Architektenschmiede geben, die ihre Vorstellungen von Wohnen und Leben dem ganzen Land übergestülpt hat. Wo ich mich auch aufhalte, ob in Sachsen oder Brandenburg oder Thüringen, ich treffe immer wieder auf die gleiche Architektur."    
     
Da die gewählte, nicht dirigierbare Form der staatlichen Wohnungsbauförderung nur Einfluß auf die Quantität des Wohnungsbaus, nicht jedoch auf qualitative Vorgaben wie Lage, Gemeindegröße oder bauliches und landschaftliches Umfeld ausübt, entstanden neben den bereits erwähnten Einfamilienhausgebieten auch kompakte und verdichtete Wohngebiete in Geschoßbauweise in großer Entfernung zu den Kernstädten und meist ohne die benötigte soziale Infrastruktur (vgl. HERFERT 1996, S. 39). Als Beispiel für diese Entwicklung kann der "Wohnpark Erfurt-Frienstedt" südwestlich der gleichnamigen Gemeinde (399 Einw. 1991) dienen. Die Fertigstellung der hochverdichteten, in mehrgeschossiger Zeilenbauweise errichteten Siedlung mit mehr als 500 WE führte zu einem Bevölkerungszuwachs von 128,6 % bis Ende 1995, davon alleine 80,2 % seit 1994.    
     
Fallbeispiele Alach und Tiefthal
     
Die 1994 nach Erfurt eingemeindete Gemeinde Alach, umfaßt neben dem Hauptort noch die beiden Siedlungen Salomonsborn und Schaderode. Neben einem Gewerbegebiet (10 ha) auf dem Gelände einer ehemaligen LPG, zeichnet sich der Ort vor allem durch die umfangreichen Wohnungsneubauprojekte aus. Im 899 erstmals urkundlich erwähnten Hauptort entstehen derzeit neben einer Reihe von Lückenschlüssen am westlichen Ortsrand ca. 25 und im Norden etwa 90 neue Wohngebäude. Vor allem der Ortsteil Salomonsborn zeigt sich als Beispiel für die totale Überformung einer gewachsenen Siedlung durch das Projekt eines Investors. Der ehemals dörfliche Charakter des 1989 nur 175 Einwohner zählenden kleinen Ortes wird völlig gesprengt. Der Investor, die "Unternehmengruppe Holzhauer" aus dem hessischen Bebra, errichtet derzeit auf einer 12 Hektar großen Fläche insgesamt 391 Wohneinheiten in Einzel-, Doppel-, Reihen- und Mehrfamilienhäusern. Hinzu kommen Arztpraxen, Büros, Freizeiteinrichtungen und ein Einkaufszentrum mit Läden, Gastronomie und Bankfilialen sowie weitere Einrichtungen der technischen Infrastruktur (z. B. Kläranlage). Das Gesamtinvestitionsvolumen beläuft sich auf 128 Millionen Mark. Trotz deutlich vorgebrachter Kritik an den Dimensionen und der mangelhaften Einbindung des Projektes in den alten Ortskern, wird der erste Bauabschnitt, in dem 108 Wohnungen (davon 54 Sozialwohnungen) errichtet werden, mit 4,32 Millionen DM durch das Innenministerium bezuschußt. Nach Fertigstellung und Bezug aller geplanten Häuser und Wohnungen wird die Bevölkerung auf ca. 1.200 Menschen anwachsen und sich somit innerhalb weniger Jahre mehr als versechsfachen. Eine vergleichbare Entwicklung im Hinblick auf die Bevölkerungsdynamik ist auch im 50 Einwohner umfassenden Ortsteil Schaderode – einem ehemaligen Gutshof – zu erwarten. Hier werden 60 weitere Ein- und Zweifamilienhäuser errichtet, so daß mit einem Bevölkerungswachstum von 60 auf 400 zu rechnen ist.  
Suburbanes Wohngebiet in Schaderode
     
Die überaus dynamische Entwicklung der Gemeinde ist insbesondere auf die Arbeit des Ortsbürgermeisters zurückzuführen, der die wiedergewonnene kommunale Entscheidungsfreiheit gewinnbringend nutzen konnte. Er rechtfertigt die negativen Folgen der Entwicklung insbesondere damit, daß auch der alte Teil der Gemeinde von den durch die Investoren finanzierten Baumaßnahmen zur Verbesserung der technischen Infrastruktur profitiert. Da der Bürgermeister bei den Kommunalwahlen mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde (vgl. Tab. 34) ist von einer relativ breiten Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Politik auszugehen.    
     
Die Einwohnerzahl des nordwestlich der Stadt gelegenen Ortes Tiefthal (vgl. Abb. 55) erhöhte sich durch den Bau von mehr als 100 Ein- und Mehrfamilienhäusern innerhalb von fünf Jahren von 528 im Jahre 1990 auf 950 (1996). Während die Nutzungsstruktur im alten Dorfkern im wesentlichen unverändert blieb, entstand im Südwesten der Gemeinde eine sehr einförmige Neubausiedlung, die nur schlecht in das Ortsbild integriert ist. Bedingt durch die Eingemeindung nach Erfurt im Jahre 1994, wurde die Ausweisung eines weiteren Neubaugebietes im Norden der Gemeinde verhindert bzw. durch den neuen Flächennutzungsplan erheblich eingeschränkt.    
     
Tab. 15: Erteilte Baugenehmigungen für Wohnungen in Erfurt 1992 bis 1995

Jahr

 

erteilte Baugenehmigungen für Wohnungen

neuzuschaffende Wohnfläche [m²]

   

insgesamt

davon in neuen Wohn- gebäuden

darunter in 1- und 2-Fam.- häusern

pro 1000 Einw.

insgesamt

pro 1000 Einw.

pro Wohn- einheit

1992

Stadt Erfurt

28

6

5

0,1

2.000

9,9

71,4

 

LK Erfurt

339

138

115

7,3

29.100

628,5

85,8

1993

Stadt Erfurt

929

552

100

4,7

64.800

322,9

69,8

 

LK Erfurt

1.509

1.423

790

32,6

132.000

2.851,0

87,5

1994

Stadt Erfurt

2.584

2.382

658

12,1

229.300

1.075,7

88,7

1995

Stadt Erfurt

2.163

1.496

271

10,3

155.700

739,8

72,0

Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik; Landeshauptstadt Erfurt, Amt für Stadtentwicklung, Statistik und Wahlen; eigene Berechnungen

   
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