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La Traviata – verführt? – verirrt? – oder vom rechten Wege abgekommen?

Über die wahren Schwierigkeiten beim Übersetzen italienischer Opern-libretti ins Deutsche

 

von Arthur Micke

 

(c) Arthur Micke Sachbuchverlag

Mannheim 1998

ISBN 3-932388-03-8

 


Das Werk mit 200 Seiten kann zum Preis von DM 68.- über den Buchhandel oder beim Sachbuchverlag Arthur Micke, Im Wirbel 18, D-68219 Mannheim, Fax: 0621/871585 bezogen werden


 

INHALTSVERZEICHNIS

 

Vorwort 1

Einleitung 2

Zum Stand der Forschung 9

Vorüberlegung: Warum nicht die Musik an den Übersetzungstext angepaßt wird 13

1. Zum Verhältnis Sprache - Musik

1.1. Sprache und Musik im Beziehungsgeflecht 16

1.1.1. Was kann Musik ohne Text und Programm ausdrücken? 16

1.1.2. Musik + Text : Autonomie oder Fusion? 17

1.1.3. Kongruenz, Korrelation und Komplementarität zwischen Text und Musik 18

1.1.4. Grenzen der Bedeutungsfähigkeit der Musik 20

1.1.5. Einfluß der Sprache auf die Musikkomposition: Das Wort befruchtet die Musik 22

1.2. Strukturelle und semantische Zuordnungsmöglicheiten von Sprache und Musik 25

1.3. Kapitelzusammenfassung 28

2. Musik und Sprache im kulturellen Transfer

2.1. Kulturelle Unterschiede und deren Auswirkungen auf die Übersetzbarkeit 29

2.1.1. Hat der Inhalt von La Traviata eine unübertragbare kulturelle oder nationale Identität? 30

2.1.2. Kann die Musik eine unübertragbare nationale Identität haben? 31

2.2. Kapitelzusammenfassung 33

3. Sprachkontrastive Analyse Italienisch - Deutsch

3.1. Für die Librettoübersetzung relevante Unterschiede zwischen der deutschen und der italienischen Sprache 34

3.1.1. Unterschiede und Problempunkte auf syntaktischer Ebene 35

3.1.1.1. Besonderheiten im italienischen Satzbau 37

3.1.2. Unterschiede und Problempunkte im musikalisch-prosodischen Bereich 39

3.1.2.1. Silben 40

3.1.2.2. Akzent 42

3.1.2.3. Vers und Metrum 44

3.1.2.4. Prosodie 46

3.1.2.5. Intonation 47

3.1.2.6. Unterschiede in der Phonetik 48

3.1.2.7. Zum lautlichen Charakter der Phoneme 49

3.1.2.8. Zur gesanglichen Eignung der Phoneme 50

3.1.2.8.1. Vokale 51

3.1.2.8.2. Konsonanten 53

3.1.2.9. Quantitative Unterschiede im Phoneminventar 53

3.2. Kapitelzusammenfassung 55

4. Zum Übersetzen von formästhetischen Texten

4.1. Definition des Übersetzungsbegriffes 56

4.1.1. Übersetzungsmethoden 56

4.1.2. Der übersetzerische ‘Treue’-Begriff 58

4.2. La Traviata - eine auf Abwege Geratene? Exkurs über die Schwierigkeiten einer getreuen Titelübersetzung 60

4.3. Zur Musikalität von lyrischen Texten 62

4.3.1. Klanglich-rhythmische Eigenschaften der Lyrik 62

4.4. Schwierigkeiten bei der Übersetzung vertonter Texte 63

4.5. Aufgaben und Charakteristiken von Arie, Rezitativ und Ensemble/Chor 67

4.5.1. Arie 68

4.5.2. Rezitativ 69

4.5.3. Chorstellen, Ensembles 69

4.6. Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Drama und Oper 70

4.7. Besonderheiten bei einer zur szenischen Aufführung gedachten Übersetzung 71

4.8. Exemplarische Darstellung der Vorgehensweise bei der Übersetzung eines Operntextes an einem Theater 72

4.9. Kapitelzusammenfassung 74

5. Anforderungen und Kriterien an eine Opernübersetzung. Darstellung der Fehlertypologien

5.1. Kriterien bei einer Librettoübersetzung 75

5.1.1. Typologie der hörbaren Fehler 76

5.2. Darstellung der verschiedenen Fehlertypologien im Einzelnen anhand von Beispielen aus den La Traviata-Übersetzungen 77

5.2.1. Keine silbenmäßige Übereinstimmung 77

5.2.2. Phrasierungsfehler 77

5.2.3. Betonungsfehler 79

5.2.4. Falsche Positionierung wichtiger, musikalisch markierter Begriffe 79

5.2.5. Unüblichkeiten in der deutschen Syntax - auffällige Inversionen 80

5.2.6. Nichtbeachten der Modulationswechsel 81

5.2.7.1 Operndeutsch - pseudopoetische Wendungen 82

5.2.Sinnentstellungen und semantische Fehlleistungen durch falsche Wortwahl 83

5.2.8. Unsangbarkeit 84

5.2.9. Veränderungen am Notentext 85

5.3. Der Reim - notwendig oder verzichtbar? 85

5.3.1. Unterschiede bei den Reimmöglichkeiten 85

5.3.2. Die Bedeutung der Reime für die Übersetzung 86

5.3.3. Die Bedeutung des Reims bei Verdi 88

5.4. Kapitelzusammenfassung 89

6. Die Funktion des Librettos und dessen Bedeutung für das Werk

6.1. Das Melodrammalibretto. Versuch einer Abgrenzung 97

6.1.1. Die parola scenica 99

6.2. Merkmale des Librettos allgemein 100

6.3. Funktion des Librettos 103

6.4. Über Bedeutung und Wert der Libretti 104

6.4.1. Über die Qualität der Verdi-Libretti 106

6.5. Kapitelzusammenfassung 107

7. Der Komponist Verdi und seine Textvorlage

7.1. Verdis Ansprüche an das Libretto 109

7.2. Das Libretto in der Genesis des Werkes - Komposition und Libretto im künstlerischen Schaffensprozeß 111

7.3. Der Komponist Verdi zur Problematik der Librettoübersetzung 117

7.4. Kapitelzusammenfassung 121

8. Oper auf Deutsch. Warum wird übersetzt?

8.1. Historischer und gesellschaftlicher Hintergrund 122

8.2. Historische Ansichten zur Musikalität der deutsche Sprache 123

8.3. Argumente für eine Opernübersetzung ins Deutsche 125

8.4. Über die Notwendigkeit der Verständlichkeit des Textes 127

8.5. Welche Übersetzung spielt das Theater? 129

8.6. Warum Neuübersetzungen? 131

8.7. Das Libretto als erneuerungsbedürftige ‘Zeitkunst’ 134

8.8. Kapitelzusammenfassung 136

9. Möglichkeiten und Probleme bei der Übersetzungsbewertung und -kritik

9.1. Ursachen für Übersetzungsdifferenzen auf (individual-) stilistischer Ebene 137

9.1.1. Zum Sprachstil in La traviata 140

9.2. Ein Einblick in übersetzerische Entscheidungsprozesse 141

9.2.1. Zur Bewertung der Übersetzung von Felsenstein 144

9.3. Mögliche ‘ideologische Einflüsse’ auf die Übersetzung 145

9.4. Bestimmung der Texttypologie und Übersetzungsmethode nach Reiss 146

9.5. Kriterien der Übersetzungskritik 147

9.5.1. ‘Äquivalenz’ 147

9.5.2. ‘Adäquatheit’ und ‘Kohärenz’ 150

9.5.3. ‘Stimmigkeit’ 152

9.5.4. Anwendbarkeit der vorgestellten Kriterien zur Opernübersetzungskritik 153

9.6. Kapitelzusammenfassung 154

10. Resumee 155

11. Gegenüberstellung der drei La Traviata-Übersetzungen 158

12. Bibliographie 187

 


Aus dem Vorwort:

Ein Opernlibretto ist kein Lesetext, sondern ein nach bestimmten musikalischen Gesichtspunkten erschaffener ‘Hörtext’. Dieser Text soll Musik auslösen, Inhalt, Gefühl und szenische Handlung transportieren; er muß also Ansprüche erfüllen, die weit über diejenigen, die normalerweise an einen reinen Lesetext gestellt werden, hinausgehen.

Aufgrund seiner Plurifunktionalität kann das Libretto nicht ausschließlich mit musikwissenschaftlichen oder philologischen Fragestellungen angegangen werden. Dem vielschichtigen ‘Zwitterding’ Libretto, das irgendwie in alle und doch in keinen Bereich so richtig hineinpaßt, wird nur eine Untersuchung gerecht, die die Fachgrenzen überschreitet - dies gilt besonders für die Libretto-Übersetzung.

Will man die Problematik der Librettoübersetzung umfassend darstellen, müssen folglich neben literaturwissenschaftlichen Aspekten der Textgattung auch musik-wissenschaftliche, linguistische und übersetzungswissenschaftliche Fragestellungen miteinbezogen werden. Die fächerübergreifende Betrachtungsweise trägt wesentlich dazu bei, den gesamtheitlichen Wirkungszusammenhang aller beteiligten Medien zu dokumentieren und die daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Übersetzung eines (z.B. italienischen) Librettos ins Deutsche aufzuzeigen.

Diese Arbeit zum Thema Opernübersetzung wagt es, sich ein wenig auf alle Stühle zu setzen, denn allein der Blick über die Fachgrenzen der einzelnen Wissensgebiete hinaus kann zu neuen Erkenntnissen und Einsichten in das überaus komplexe Feld der Sprachbehandlung in der Oper führen.

Auch wenn hier speziell auf die Problematik der Übersetzung von italienischen Opernlibretti ins Deutsche abgehoben wird, sind die grundlegenden Gedanken zum Wort-Musik-Verhältnis durchaus auch auf andere Sprachpaare (unter Einbeziehung der jeweiligen Spracheigenschaften) anwendbar.

Um die Untersuchung an einem möglichst repräsentativen Korpus durchzuführen, wurde La Traviata von Giuseppe Verdi herangezogen. Sie ist in den Theatern häufig auch in deutscher Übersetzung anzutreffen und gehört zusammen mit Rigoletto zu den meistaufgeführten Werken Verdis in Deutschland.

Bei den zu untersuchenden La Traviata-Übersetzungen wird auf die drei weit-verbreitetsten und bekanntesten Übersetzungen zurückgegriffen:

  1. Die Fassung von Natalie von Grünhof (1836-1905) aus dem Jahr 1857, die in der kostengünstigen Ausgabe des Verlags Philipp Reclam jun. weit verbreitet ist.
  2. Die Fassung von Walter Felsenstein (1901-1975) aus dem Jahr 1961, verlegt als Textbuch, Klavierauszug und Partitur beim Bärenreiter-Verlag.
  3. Die Fassung von Joachim Popelka (1910-1965) und Georg C. Winkler (Lebensdaten nicht bekannt) aus dem Jahr 1964, verlegt als Textheft, Partitur und Klavierauszug bei Ricordi.

Bei allen drei La Traviata Übersetzungen handelt es sich um Ausgaben, die zur gesanglichen Ausführung gedacht sind und somit mit dem Originallibretto von Piave verglichen werden können.

 


Zusammenfassende Schlußbetrachtung:

Die in dieser Arbeit angestellten Untersuchungen ergaben, daß die Übersetzung eines italienischen Librettos ins Deutsche zwar zahlreiche Probleme bereitet, aber sie scheinen nicht unüberwindlich: orrenda ma fattibile!

Dabei betreffen die Schwierigkeiten bei der Übersetzung italienischer Opernlibretti ins Deutsche weniger die inhaltliche oder semantische Seite, wie sonst bei Literaturübersetzungen der Fall, sondern hauptsächlich den klanglich-musikalischen (supra-segmentalen) Bereich sowie die Silbenquantitäten und -distribution.

Die neueren, für die Textgattung Libretto relevanten übersetzungstheoretischen Ansätze (u.a. von Snell-Hornby, 1993, Kaindl, 1995) tendieren dahin, das Übersetzungsziel in den Vordergrund zu stellen und konzentrieren ihre Überlegungen und Betrachtungen auf das Resultat als Ganzes. Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr die Aufstellung eines Fehlerkatalogs oder die Überprüfung einzelner Äquiva-lenzkriterien, sondern die Frage, ob der Zweck der Übersetzung unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel erreicht worden ist.

Am Anfang muß also die Überlegung stehen, was will ich mit meiner Übersetzung erreichen? Dem entsprechend sollte der Übersetzungskritiker an erster Stelle bewerten, ob die Übersetzung ihr Ziel erreicht hat.

Je nachdem, ob eine Übersetzung für eine sprachlich und szenisch erneuerte oder für eine traditionell-historische Inszenierung anzufertigen ist, werden die vom Übersetzer angesetzten Kriterien und Präferenzen anders liegen. Handelt es sich beispielsweise um eine Übersetzung für eine moderne Inszenierung, so kann die Aufführung eventuell an Homogenität gewinnen, wenn bewußt auf die Über-tragung des Verses und besonders poetischer Wendungen verzichtet wird.

Für das Libretto würde dies bedeuten, daß Sprachstilistik und Wortwahl primär von der Inszenierungsabsicht (‘Ambientalisierung’), also von der Übersetzungsziel-vorgabe abhängen und sekundär dem subjektiven, künstlerisch-handwerklichen Anspruch des Übersetzers genügen müssen. Folglich können die Übersetzungen stark differieren, wenn sie von unterschiedlichen Zielvorstellungen geprägt sind.

Die stilistischen Freiheiten werden durch den ungewissen literarischen Wert der Libretti eher noch vergrößert. Denn was schon im Original inhaltlich und stilistisch nicht viel wert zu sein scheint, kann auch durch die Übersetzung kaum in seinem Wert beeinträchtigt werden.

Die Oper wird durch die Musik geprägt. Bei der Opernübersetzung stellt die Musik eine starre Form dar, der sich die Sprache anzupassen hat. Verfolgt der Übersetzer ein ‘ideales’ Übersetzungsziel, will er allen Bereichen und Kriterien gleichermaßen gerecht werden, kann es nicht ausbleiben, daß er mit der starren Form der Musik in Konflikt tritt, da sie als feststehende Konstante seine Modellierversuche behindert. So wird aus der Schneiderpuppe ein Prokrustesbett, dem sich die bereits gefundene perfekte Form und Sprache nur unter Hinnahme von Verzerrungen, Stauchungen oder sogar üblen Brüchen angleicht.

Die wahren Probleme liegen demnach in den Bereichen, in denen der Übersetzer, aufgrund des durch die Musik bestimmten Ablaufplanes der Oper keine oder nur sehr begrenzte Freiheiten hat und wo sich individuelle, zielgerichtete Auswahlentschei-dungen dem Diktat der Musik unterzuordnen haben.

Um den Inhalt in angemessener Weise darzustellen, kann eine konventionelle Literaturübersetzung problemlos zehn Seiten mehr haben als das Original, das Buch wird dann eben etwas dicker. Bei einer Librettoübersetzung hingegen darf (bzw. dürfte) die Übersetzung keine Silbe mehr aufweisen als die beim Vortrag des Originals hörbaren - das Prinzip der Unantastbarkeit der Noten vorausgesetzt.

Hörbare Fehler tauchen also besonders dort auf, wo der Übersetzer nicht auf die Musik Rücksicht nimmt oder gegen die Musik gerichtete, falsche Präferenzen setzt (z.B. einen musikalisch nicht nachvollzogenen Reim befolgt, dabei aber prosodische Fehler begeht).

Wobei grundsätzlich Übersetzungsfehler und ‘bessere’ Übersetzungsvorschläge in einem gesamtheitlichen Wirkungszusammenhang gesehen werden müssen, denn oft ist es nur möglich, eine Lösung für ein übersetzerisches Problem zu finden, wenn in einem sprachlich-grammatikalischen oder musikalisch-klanglichen Bereich Abstriche gemacht werden.

In wie weit die Charakteristiken des Melodramma-Librettos zu Zeiten Verdis (Vers, Metrum, Reim, poetische Sprache, etc.) für die Übersetzung tatsächlich von obligater Bedeutung sind, bzw. ob mit ihnen freier verfahren werden kann (z.B. um den Sinn und die Wort-Ton-Einheit des Werkes zu bewahren), muß von Stelle zu Stelle mit Blick auf das gesteckte Übersetzungsziel entschieden werden.

Aus der Untersuchung des klanglich-musikalischen Bereichs der Sprachen Deutsch und Italienisch ist leicht abzulesen, daß die klanglich-musikalischen Merkmale der deutschen Sprache schwerlich - auch bei gewissenhaftester und sorgfältigster Wortwahl unter phonetischen Gesichtspunkten - einen in allen Be-reichen mit dem Italienischen identischen Klangeindruck hervorrufen können.

Die differierenden klanglich-prosodischen Merkmale der deutschen Sprache machen es praktisch unmöglich, klanglich dem italienischen Original gerecht zu werden. Da ein identisches Sprachklangresultat nicht erreicht werden kann, sollte auch nicht die italienische Sprache als Referenzpunkt herangezogen werden, sondern das im Deutschen (‘wohl-’) klanglich maximal Erzielbare.

Als Referenzpunkt und Beispiel für das sprachlich Machbare und in Deutschland bewiesenermaßen Erfolgreiche könnte die Sprachbehandlung und das Klangergebnis deutscher Opern der gleichen Epoche dienen. Beschränkt man die phonetischen Anforderungen auf die im Deutschen tatsächlich erreichbaren Resultate, stellt die vom Italienischen deutlich abweichende Phonetik ein sängerisch-technisches, aber kein eigentliches Opernübersetzungsproblem dar

Das unterschiedliche Sprachklangresultat verhindert jedoch nicht eine im musik-dramatischen Sinne stimmige und wirkungsvolle Übersetzung eines italienischen Librettos. Schließlich ist das hörbare Resultat mit den Ohren des Rezipienten, also vom Zuschauerraum aus zu beurteilen, wobei sich die Meßlatte an vergleichbaren deutschen Opern und am gesteckten Übersetzungsziel orientieren muß.


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