MATEO - Mannheimer Texte Online


Wolfgang Schibel: Aus der Bibliotheksreserve ins Internet

Die elektronische Publikation gedruckter Quellen der Frühen Neuzeit

Bibliothèque nationale Luxembourg, "Forum 2000", 11. Februar 2000

Hätte mir vor fünf Jahren jemand gesagt, daß ich einmal einen Vortrag über die elektronische Publikation alter Drucke halten würde - ich hätte ihm nicht geglaubt; ja, ich hätte mir unter dem Thema kaum etwas vorstellen können. Mein Interesse galt von jeher mehr der gesprochenen Literatur als der Schrift und dem Buchdruck, und die digitalen Texte gar waren für mich damals eine Neuheit am Rande meines Gesichtskreises. Mit Unbehagen sah ich, daß die Kette der Ableitungen vom ursprünglich gesprochenen Wort immer länger wird, daß der geschriebene oder gedruckte Text, der als Repräsentant der Sprache schon problematisch genug ist, nun noch einmal kodiert und in ein anderes Medium transponiert wird, womit zwar die Reichweite der sprachlichen Äußerung wächst, doch auch die Gefahr der Manipulation und des Mißverstehens zunimmt.

Auf die Bahn der Digitalisierung bin ich vor vier Jahren durch Anstoß von außen geraten. Auf ihr fortgefahren aber bin ich aus eigenem Interesse. Inzwischen bin ich zwar immer noch kein Experte der technischen Verfahren; wohl aber habe ich mich durch Erfahrung davon überzeugt, daß die Arbeit an der elektronischen Wiedergabe alter Texte die Mühe lohnt, und daß Bibliothekare ihre Aufgabe der Bestandsvermittlung noch nie so wirkungsvoll wahrnehmen konnten wie heute mit den Mitteln der elektronischen Information und Publikation. Ich will hier darlegen, warum die digitale Reproduktion und Aufbereitung alter Texte für Forschung, Lehre und allgemeine Bildung eine Bereicherung darstellt - eine Bereicherung, die freilich nur in dem Maße zu einem wirklichen Gewinn werden kann, in dem die Nutzer die alten Verfahren sprachlicher Rezeption und Reproduktion, nämlich Hören und Nachsprechen, Lesen und Nachschreiben, nicht verlernen. Sehen wir uns nun die unterschiedlichen Formen der elektronischen Publikation alter Drucke im einzelnen an.

Der elektronische Reprint

Die grundlegende, den geringsten Aufwand erfordernde Form der digitalen Konversion alter Drucke ist das Scannen, durch das eine Bilddatei erzeugt wird. Die Speicherung des Bildes beruht auf der elektronischen Kodierung winziger Bildpunkte (Pixel). Die daraus resultierende Abbildung von einer oder zwei Buchseiten auf dem Monitor ist mit dem bedruckten Papier in materieller Hinsicht nicht verwandt, kann jedoch bei einer Farbdigitalisierung hoher Auflösung die optischen Merkmale der Vorlage weit genauer wiedergeben als der konventionelle Reprint auf Papier. Mit der Programmfunktion "Bildbearbeitung" können wir die Abbildung so stark vergrößern, daß sogar die Struktur des Hadernpapiers mit seinen Fäden und Netzlinien deutlich sichtbar wird. Wir können freilich die Bilddaten durch Änderung der Farb- und Kontrasteinstellungen auch manipulieren. Doch muß das digital erzeugte Abbild als solches nicht weiter vom Original entfernt sein als der konventionelle Nachdruck. Dieser ist zwar ein gebundenes Buch wie seine Vorlage, doch unterscheidet er sich von dieser durch die Beschaffenheit von Papier und Einband, durch Farbwerte und Hell-Dunkel-Abstufung. Die Nähe zum Original sollten wir weniger nach dem materiellen Substrat als nach dem Eindruck beurteilen, den das Abbild im Betrachter erzeugt.

Freilich hat die digitale Reproduktion zunächst den Mangel, daß die einzelnen Bilddateien, die jeweils eine oder zwei Seiten abbilden, isolierte Elemente sind, die erst noch zu einem Kontinuum zusammengebunden werden müssen, wie es das gedruckte Buch ist. Deshalb werden die Bilddateien an ein Seitenverzeichnis angekoppelt, das zweckmäßiger Weise die Paginierung bzw. Foliierung der Vorlage reproduziert. Dann kann man, im Seitenverzeichnis hin und her springend, wie beim Blättern in einem Buch die Seiten in beliebiger Reihenfolge aufrufen. Informativer als die bloße Seitenangabe ist freilich eine beigegebene Abbildung der Seite im Daumennagelformat (thumb-nail image), die auf dem Bildschirm und im Datenspeicher nur wenig Platz beansprucht. Wie schnell man sich auf diese Weise einen Überblick über das Buch verschaffen kann, hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der die Daten übertragen und die Bilder aufgebaut werden. Da die Kapazität von Leitungen, Modems und Arbeitsspeichern ständig zunimmt, ist hier schon bald keine störende Langsamkeit mehr zu befürchten. Die technische Entwicklung wird es auch erlauben, die Qualität der Abbildung zu erhöhen, indem beim Scannen eine höhere Auflösung und bei der Übertragung eine geringere Kompression gewählt werden.

Enthalten die Vorlagen Inhaltsverzeichnisse oder Register, gewinnt der Leser schon dadurch einen Überblick und den Zugang zu speziellen Informationen. Es empfiehlt sich, diese Erschließungstexte maschinenlesbar zu erfassen und jeden Eintrag mit den betreffenden Seitenbildern zu verknüpfen. Dann kann man diese Verzeichnisse schnell überfliegen, maschinell nach Stichwörtern suchen und die interessierenden Seiten direkt aufrufen. Erschließungstexte und Seitenabbilder können ausgedruckt oder auch als Dateien weiterverarbeitet werden. Damit erübrigt sich der Gang zum Kopierer oder zum Readerprinter, den so viele Bibliotheksbenutzer heute noch antreten müssen.

Solche Inhaltsangaben werden von Suchmaschinen des World Wide Web ausgewertet. So ergeben sich für Erschließung und Lieferung der Dokumente völlig neue Bedingungen, die einer Revolution der Literaturinformation und -versorgung gleichkommen. Mußte man sich bisher damit begnügen, daß Bibliothekskataloge und Bibliographien das Buch als ganzes nachweisen und erschließen, so dringt mit dem im Netz recherchierbaren Inhaltsverzeichnis der Blick des Benutzers erstmals ins Innere des Buches. So kann er einen Beitrag zu einer Aufsatzsammlung, ein Dokument in einem Quellenanhang, einen Text in einer Anthologie, ein Porträt und jede andere in dem Inhaltsverzeichnis aussagekräftig benannte Illustration auch dann entdecken, wenn er gar nicht weiß, in welchem Buch die von ihm gesuchte Information enthalten ist.

Der hier geschilderte Publikationstyp ist in der "Editio Theodoro-Palatina" in MATEO verwirklicht. Die Ausgaben der "Editio" sind überdies mit knappen Einleitungen zu Autor und Werk und manchmal auch mit Resümees des Inhalts versehen, die dem interessierten Laien oder auch dem eiligen Wissenschaftler die Orientierung erleichtern.

Welche Bedeutung die geschilderte Art der digitalen Reproduktion alter Drucke gewinnen wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Erlauben es die Kosten des Verfahrens überhaupt, große Mengen von Druckschriften zu konvertieren? Mit einem Flachbettscanner oder einer digitalen Kamera (oder auch einem - derzeit noch nicht verfügbaren - Buchscanner, der wie jene farbige Abbildungen hoher Auflösung liefert) kann eine eingearbeitete technische Kraft ca. 15 Scans in der Stunde anfertigen. Dabei ist die zumeist nötige Vorbereitung und Nachbearbeitung der Aufnahme eingeschlossen, z.B. Eliminieren der Ränder und Flecken, Optimierung des Hell-Dunkel-Kontrasts und der Farbeinstellung. Für die bibliographische Verzeichnung des Titels, die Abschrift oder Erstellung eines Inhaltsverzeichnisses, die Verknüpfung der Bilddateien mit den Erschließungselementen und die Einbindung des Ganzen ins WWW wird im Durchschnitt noch einmal ebenso viel Zeitaufwand einer wissenschaftlichen Hilfskraft benötigt. Je nach Größe des Buchs, Position des Satzspiegels und Lage der aufgeschlagenen Seiten können zwei gegenüberliegende Seiten auf einmal oder aber jeweils nur eine Seite erfaßt werden. (Bei sehr großen Seiten, z.B. ausklappbaren Kupfertafeln, macht man mehrere Teilaufnahmen, die dann zu einem Bild aneinander gesetzt werden.) Wir gehen bei der folgenden Berechnung davon aus, daß pro Seite im Durchschnitt ein Scanvorgang durchzuführen ist. Wenn in einer Stunde, die mit 25 DM entlohnt wird, 7 ½ Seiten bearbeitet, d.h. eingescannt und erschlossen werden, sind die Arbeitskosten je Seite mit etwa 3,33 DM anzusetzen. Vergleichen wir diesen Aufwand mit den Kosten eines konventionellen Nachdrucks. Wir können hierbei annehmen, daß ein Buch von 300 Seiten Umfang zum Preis von 70 DM an ca. 100 Bibliotheken verkauft wird, die jeweils noch einmal 50 DM für die Bearbeitung des Neuzugangs aufwenden. Die Gesamtausgaben der Bibliotheken für den Nachdruck betragen dann 12.000 DM, das sind 40 DM pro Seite der reproduzierten Vorlage, also das Dutzendfache dessen, was für den elektronischen Reprint aufzuwenden ist.

Stellen wir uns nun vor, daß die Digitalisierung deutscher Drucke vor 1800 10 Jahre lang mit jährlich 5 Mio. DM gefördert wird. Mit diesen allein für Personalkosten bestimmten Mitteln - die Scanner-Arbeitsplätze werden von größeren Bibliotheken ohnehin für andere Vorhaben benötigt und die Serverkapazitäten sind auf längere Sicht gewiß nicht teurer als der (eingesparte) Stellplatz für Nachdrucke im Büchermagazin - können 15 Mio. Seiten digital publiziert werden, was bei einem durchschnittlichen Umfang von 300 Seiten pro Buch einem Bestand von 50.000 Bänden entspricht. Das ist zwar nur ein Bruchteil der von Gutenberg bis 1800 in Deutschland erschienenen Drucke (dem Seitenumfang nach vielleicht ein Zehntel des Gesamtvolumens), kann aber, gut ausgewählt, doch den Kernbestand umfassen, der den allergrößten Teil der Nachfrage auf sich zieht. (Zum Vergleich führe ich an, daß die Universitätsbibliothek Mannheim den dreißigsten Teil ihres Altbestandes in Form von Papierkopien reproduziert hat und mit diesen bereits ein Drittel der Benutzungswünsche im Bereich der alten Drucke befriedigen kann.) Mit einem digitalen Bestand von 50.000 alten Drucken wären die Bibliotheken in der Bereitstellung, Reproduktion und Reparatur ihrer kostbaren Altbestände so weit entlastet, daß von da an der Aufwand für weitere Digitalisierungsvorhaben aus den eingesparten Ressourcen bestritten werden könnte.

Wenn man heute zweifelt, ob die mit alten Texten arbeitenden Wissenschaftler das digitale Angebot akzeptieren oder es, wie vielfach die großen Mikrofiche-Editionen1, links liegen lassen werden, dann wird zumeist die Alternative "Buch oder Bildschirm" beschworen, wobei das Buch unschwer gewinnt. Die digitale Publikation tritt aber auf diesem Feld nicht an, um das Buch zu verdrängen, sondern um die Lücke zu füllen, die durch Seltenheit und Schutzbedürftigkeit der Originale entsteht. Selbstverständlich wird auch künftig fast jeder Leser lieber in einem Buch lesen, das er in der Hand hält. Doch ist der Zugang zu den alten Drucken, von denen wir sprechen, heute in der Regel so schwierig, daß der sofortige Zugriff am vernetzten Arbeitsplatz den herkömmlichen Benutzungsbedingungen weit überlegen ist. Ein Verzicht auf die digitale Publikation würde im Bereich der alten Drucke vielfach nichts anderes bedeuten als den Verzicht auf die Kenntnis und Nutzung der alten Texte überhaupt. Ein "digitaler Büchersaal" aber, der den Kernbestand der gedruckten Überlieferung Deutschlands bis 1800 umfaßte, würde alle mit der Frühen Neuzeit befaßten Disziplinen auf eine verbreiterte Basis allgemein zugänglicher Primärdokumente stellen.

Zwar haben die Verlage in den vergangenen vier Jahrzehnten Tausende von Nachdrucken und Zehntausende von Neuausgaben frühneuzeitlicher Texte herausgebracht, so daß man den Fundus allgemein zugänglicher Quellen zunächst für ausreichend halten möchte. Doch sollte man folgende Einschränkungen nicht übersehen: 1. Neuausgaben sind nicht die Dokumente selbst. Sie verlangen geradezu nach der Ergänzung durch die Dokumente, auf denen sie basieren. Damit wird nicht nur historisches Kolorit vermittelt, sondern auch die Arbeit des Herausgebers erst nachvollziehbar und überprüfbar gemacht. 2. Verlage haben selten eine breite, repräsentative Auswahl einer Literaturgruppe im Nachdruck herausgebracht2. Zumeist folgten sie Anregungen interessierter Forscher, die sich als Herausgeber eines Werks oder einer kleinen Werkgruppe zur Verfügung stellten. In unserer "Editio Theodoro-Palatina" sind mehrere Werke erstmals reproduziert, die bei planmäßigem Vorgehen schon längst hätten im Nachdruck erscheinen müssen3. 3. Die Erwerbung von Nachdrucken ist von vielen Bibliotheken vernachlässigt worden, so daß manche Reprints kaum weniger selten zu finden sind als die Originale.

Die an sich schon diffizile Arbeit mit den Quellen wird durch die bibliothekarischen Bedingungen ihrer Benutzung erst recht beschwerlich, und so wird sie vielfach gescheut und vernachlässigt. Nur hartnäckige Forscher überwinden alle Hindernisse und setzen sich der Fülle des Überlieferten aus. Der "digitale Büchersaal" würde die Quellen leicht erreichbar und somit ihre Kenntnis zur Pflicht machen. Zwar würden manche Wissenschaftler ein solches Angebot als positivistischen Schock empfinden und andere wiederum bedauern, daß sie den Vorsprung einbüßen, den sie als Kenner rarer Drucke bisher vor der Mehrheit ihrer Kollegen hatten. Doch dürften solche Effekte im Interesse der Forschung durchaus erwünscht sein.

Nachdem wir die positiven Wirkungen, die von einem großen, gut erschlossenen Angebot digitaler Reproduktionen alter Drucke ausgehen können, ausgemalt haben, müssen wir zunächst fragen: Wird ein solches Angebot überhaupt in absehbarer Zeit zustande kommen? (Ich spreche im folgenden von den deutschen Verhältnissen.) Das 1997 angelaufene Förderprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Retrodigitalisierung von Bibliotheksbeständen" hat sich vorerst andere Ziele gesetzt: Ein "elektronischer Lesesaal" soll dem Wissenschaftler grundlegende Nachschlagewerke4 am vernetzten häuslichen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen. Dadurch wird der Gang in die Bibliothek eingespart, die Quellenbasis der Forschung jedoch nicht verbreitert. Eine andere Gruppe von Projekten gilt einmaligen oder besonders seltenen Materialien, z.B. Handschriften, Musikalien, Papyri, Photographien und graphischen Blättern. Ein dritter Typ von Digitalisierungsprojekten entwickelt für einen jeweils eng begrenzten Arbeitsbereich modellhaft ein komplexes Angebot von Quellen und Hilfsmitteln. Die oben skizzierte Aufgabe aber, allen historisch arbeitenden Disziplinen eine gemeinsame, umfassende und repräsentative Materialbasis frühneuzeitlicher Quellen in digitaler Form zur Verfügung zu stellen, wird noch nicht anvisiert. Sie übersteigt freilich finanziell und organisatorisch die Möglichkeiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft. So gilt es zunächst, eine Diskussion über dieses große Projekt zu führen, um schließlich verschiedene Geldgeber und die angesprochenen Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen zu gemeinsamer Anstrengung zu motivieren - für die zersplitterte Wissenschaftsorganisation in Deutschland freilich eine ungewohnte Herausforderung.

Wir wenden uns nun einem anderen Typus der elektronischen Publikation zu, der

Volltextdatenbank

Große Teile des literarischen Kanons, aber auch repräsentative Stichproben der Alltagssprache einiger Nationen und Epochen sind heute bereits maschinenlesbar erfaßt und als Volltextdatenbanken aufbereitet. Verlagserzeugnisse auf CD-ROM5 sowie ähnliche von wissenschaftlichen Institutionen geschaffene Angebote6 sind weithin bekannt und werden gern benutzt. Die von freiwilligen Mitarbeitern beigesteuerten Texte des Projekts Gutenberg-DE7 und seines amerikanischen Vorbilds8 sind hingegen nicht strukturiert. Die maschinenlesbaren Volltexte erlauben zumeist den bequemen Ausdruck von Abschnitten aus bedeutenden Werken und deren Einfügung in eigene Texte, die Suche nach bestimmten Formulierungen in einem Textcorpus und manchmal auch das Durchmustern seines Bestandes an Wortformen anhand von alphabetischen Registern. Dies muß hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Im Hinblick auf die von uns thematisierten alten Drucke stellen sich einige besondere Fragen.

Gibt es unter den alten Drucken überhaupt Textgruppen, die noch nicht wissenschaftlich ediert sind und es doch verdienen, als Volltextcorpus verfügbar gemacht zu werden? Die Verlage der großen Textdatenbanken haben bisher - gewiß aus ökonomischen Gründen - vor allem bekannte, längst edierte Texte konvertiert, die bereits durch Wörterbücher, teilweise auch durch Indices oder Konkordanzen erschlossen waren. Die Möglichkeit, große Textmassen maschinell nach bestimmten Zeichenfolgen zu durchsuchen und Wortformenindices zu erstellen, verspricht allerdings für bisher unbekannte Corpora einen besonders reichen Ertrag neuer Erkenntnisse. Als Beispiel führe ich die neulateinische Literatur an, den größten Literaturkomplex der Frühen Neuzeit überhaupt. Sie umfaßt nicht nur den überwiegenden Teil der wissenschaftlichen Literatur dieser Epoche, sondern auch eine Schöne Literatur, die an Umfang, Vielfalt und Qualität hinter der volkssprachlichen Belletristik keineswegs zurücksteht. Für diese Literatur, die sich in allen Ländern Europas und darüber hinaus in wahrscheinlich mehr als 1 Mio. Drucken manifestiert, gibt es kein Wörterbuch9, nur wenige moderne Editionen und als Erschließungshilfen in der Regel nur die in den alten Ausgaben selbst vorhandenen Inhaltsverzeichnisse und Register. Will man die neuzeitliche Latinität linguistisch und literarisch erfassen, benötigt man repräsentative Auswahlcorpora, die planmäßig erhobene Stichproben aus dem gesamten Terrain und zudem die einflußreichsten Texte vollständig enthalten. Die von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Schönen Literatur getragene Arbeitsstelle "Indices zur lateinischen Literatur der Renaissance", die ihre Ergebnisse im Olms-Verlag publiziert, hat bisher Schriften von drei Autoren des italienischen Renaissancehumanismus (Salutati, Landino, Ficino) erfaßt und als Datenbank aufbereitet. 1999 haben wir in Mannheim begonnen, maßgebliche alte Ausgaben der wichtigsten neulateinischen Dichter Deutschlands einzuscannen und maschinenlesbar zu erfassen. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Förderprogramms "Retrodigitalisierung von Bibliotheksbeständen" finanzierte Projekt CAMENA (Corpus Automatum Manhemiense Electorum Neolatinitatis Auctorum) soll die Opera poetica omnia von etwa 50 Autoren des 16. bis 18. Jahrhunderts (rund 36.000 Druckseiten) als Volltexte und zugleich als Seitenabbildungen alter Ausgaben im WWW zugänglich machen.

Im Falle von CAMENA ist der Volltexterfassung keine moderne wissenschaftliche Edition zugrunde zu legen. Somit stellen sich uns zwei Fragen: Soll der Text des als Vorlage dienenden alten Drucks diplomatisch getreu wiedergegeben oder aber standardisiert werden? Soll die Vorlage mit Hilfe eines Zeichenerkennungsprogramms (OCR = Optical Character Recognition) eingelesen werden oder wird sie besser von Billiglohnkräften (z.B. in der Volksrepublik China) eingetippt oder aber von Kennern der jeweiligen Sprache und Literatur transkribiert? Beginnen wir mit der letzteren Frage. Die programmgesteuerte Zeichenerkennung (OCR) versagt bei alten Drucken vor allem in folgenden Fällen: Schwacher Auftrag der Druckfarbe, mangelnder Abstand zwischen einzelnen Zeichen, Frakturschrift, Sonderzeichen wie Ligaturen und (nicht immer eindeutige) Abbreviaturen, gedruckte (und handschriftliche) Marginalien, Verschmutzungen. Bei den meisten Vorlagen sind aufwendige Vorarbeiten (das "Trainieren" des OCR-Programms, das Reinigen und Abdecken der Vorlage) und Nacharbeiten (manuelle Einzelkorrektur) fällig, die den Automatisierungsgewinn schnell aufzehren. Die manuelle Erfassung durch Billiglohnkräfte stößt nicht selten an dieselben Grenzen. Das hierbei übliche Verfahren, die Texte durch zwei verschiedene Arbeitskräfte abschreiben zu lassen und dann die Abweichungen zu prüfen und zu korrigieren, garantiert bei alten Drucken noch keinen fehlerfreien Text. Uneindeutige graphische Zeichen (z.B. f / Schaft-s oder i / l bei schwachem Farbauftrag) dürften von mehreren sprachfremden Schreibkräften oft gleichermaßen falsch erfaßt werden - ein Fehler, der beim automatischen Abgleich der beiden Fassungen nicht entdeckt wird.

Das in Mannheim entstehende Corpus der neulateinischen Dichtung Deutschlands wird von angehenden Latinistinnen und Latinisten manuell eingegeben. Mehr als 20 Interessierte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich trotz geringer Vergütung (je nach Arbeitstempo verdienen sie 10 bis 15 DM pro Stunde) bereit gefunden, die Texte aus den alten Ausgaben abzuschreiben und aufzubereiten. Die philologische Kompetenz der Mitarbeiter ermöglicht eine integrierte Arbeitsweise: Die Standardisierung der Graphie und die Strukturierung des Textes für die Datenbankpräsentation wird schon im Zuge der Texterfassung durchgeführt. Die Vorlagen stellen wir den Bearbeitern als Bilddateien auf CD zur Verfügung. Für die Strukturierung des Textes werden entsprechend den Document Type Definitions (DTD) der Text Encoding Initiative (TEI) 60 ausgewählte Markierungen (tags) verwendet. Sie werden aus einer am Bildschirm neben dem Fenster der Textverarbeitung sichtbaren tag library durch Mausklick in den Text eingefügt. Daß wir diese anspruchsvolle Arbeit im Rahmen von Werkverträgen für wenig Geld ausführen lassen, mag als Ausbeutung kritisiert werden. Doch war der enge Kostenrahmen durch den Zuschnitt des DFG-Programms Retrodigitalisierung vorgegeben. Die Alternative bestand darin, die Abschrift an eine Dienstleistungsfirma zu vergeben. Mit Rücksicht auf die besondere Natur der Vorlagen und die anschließende Aufbereitung der Texte hätten wir uns dabei mit einer einfachen Erfassung ohne Fehlerkorrektur begnügt. Diese Leistung bot uns ein deutsch-chinesisches Unternehmen für weniger als 1 DM pro 1000 Zeichen an. Die Aufgabe der studentischen Mitarbeiter hätte dann allein in der Korrektur und Markierung der erfaßten Texte bestanden - eine Arbeitsteilung, die von den befragten Studierenden selbst nicht gewünscht wurde. Sie betrachten ein längeres Verweilen bei den zu bearbeitenden Texten als Gewinn. Für anders gelagerte Projekte freilich mag die Roherfassung in einem Billiglohnland mit anschließender Korrektur und Aufbereitung durch Kenner der Materie sehr wohl das rationellere Verfahren sein.

Bei der von uns gewählten Vorgehensweise ist es möglich, die Texte sogleich in standardisierter Graphie nach der aktuellen Norm von Klassikerausgaben (z.B. der Bibliotheca Teubneriana) einzugeben. Der nicht an alte Drucke gewöhnte Leser wird sie so leichter lesen können. Die Vereinheitlichung erleichtert auch die automatische Suche und die Erstellung von Registern. Die authentische Graphie, die dabei verloren geht, kann der Leser wiedergewinnen, indem er die Seitenabbilder des zugrunde gelegten alten Druckes aufruft. Sie werden in der Hypertextarchitektur mit dem Volltext verknüpft. Außerdem wird eine in der Volltextversion unterschlagene Variante, sofern sie stilistisch relevant ist (z.B. eine archaische oder poetische Flexionsform), zusätzlich als "Originalform" eingefügt und mit der Standardform verknüpft.

Das parallele Angebot von Faksimile-Abbildung der Vorlage und standardisierter Volltextversion befreit den Herausgeber aus der Zwangslage, einen Kompromiß zwischen Authentizität und leserfreundlicher Präsentation eingehen zu müssen, der letztlich beiden Forderungen nicht gerecht wird und das editorische Tun verschleiert10. Wer die Angleichung der Graphie neulateinischer Texte an die heutige Schulnorm als gänzlich unhistorisch verwirft, möge bedenken, daß die Frühe Neuzeit selbst keine graphische oder typographische Unterscheidung antiker und zeitgenössischer lateinischer Texte kannte. Außerdem muß man damit rechnen, daß der heutige Leser lateinischer Texte durch ein ungewohntes Schriftbild in der Regel eher verwirrt als informiert wird. Die Beibehaltung frühneuzeitlicher Schreibweisen leistet der Vermittlung neulateinischer Texte keinen guten Dienst11. Dagegen kann die diplomatische oder faksimilierte Wiedergabe älterer deutscher Texte beim deutschen Leser mit einer hohen Wiedererkennungskompetenz und auch mit einem gewissen Vergnügen an der Abweichung von der blassen Norm rechnen.

Wie schon gesagt, folgen wir bei der Strukturierung der CAMENA-Texte den Richtlinien der Text Encoding Initiative12, verwenden aber nur einen Teil des dort angebotenen Instrumentariums, da sonst der finanzielle Rahmen des Projektes überschritten würde. Derzeit liegt der erste der erfaßten Texte (Ferdinand von Fürstenbergs Carmina von 1671) aufbereitet vor. Er ist gemäß XML (Extended Mark-up Language) markiert und vorläufig mit html (Hypertext Mark-up Language) ins Netz gestellt (http://mateo.uni-mannheim.de/camena/fuerst/). Durch eine Markierung identifiziert sind Überschriften, Zitate, nicht-lateinische Textteile, Anmerkungen, editorische Eingriffe, Namen mythischer und biblischer Personen und Orte, Bezeichnungen von Nationen, Datumsangaben, Abkürzungen u.a.m. Damit wird es möglich, nach solchen Elementen im ganzen Corpus gezielt zu suchen. Ihre Auflistung in spezifischen Registern wird manches interessante Phänomen (z.B. die Rezeption des antiken Mythos13) in bisher unbekannter Breite dokumentieren. Die Auswertung einer repräsentativen Textsammlung unter verschiedenen Fragestellungen, die bisher langen Umgang mit den Texten und einen konsequent geführten Zettelkasten erforderte, wird dann jedem Interessierten erreichbar sein. Das wird mancher Anfängerarbeit den Anschein der Gelehrsamkeit geben und andererseits die Früchte jahrzehntelangen Sammelns als trivial erscheinen lassen. Doch wird damit für die terra incognita der Neo-latinitas lediglich nachgeholt, was für besser erforschte literarische Regionen längst gegeben ist.

Werden in einem Dokument durch Querverweise Verbindungen zu weiteren Informationen hergestellt, so spricht man von einem "Hypertext". Gehören die solcherart mit einem Text verknüpften Dateien einem anderen Medientyp an - wie z.B. Bild-, Video- oder Tondokumente -, so nennt man das Ganze multimedial. Eine Textdatenbank, die mit Markierungen der Standard General Markup Language (SGML) oder eines ihrer Abkömmlinge (z.B. TEI-lite DTDs, html, XML) aufbereitet ist, kann zum Hypertext bzw. zur Multimedia-Anwendung ausgebaut werden. CAMENA ist als multimediales Angebot konzipiert, das literarische Texte durch miteinander verknüpfte Bild- und Textdateien darstellt. Darüber hinaus kann CAMENA grundsätzlich auch Übersetzungen, Kommentare, Illustrationen (z.B. Porträts, topographische Ansichten) und Tonwiedergaben aufnehmen. Ob unser zunächst auf Volltext und Seitenabbild begrenztes Textcorpus sich einmal zu einer vielschichtigen Werkstatt der Forschung, Kommunikation und Publikation im Bereich der neulateinischen Philologie entwickeln wird, muß die Zukunft zeigen.

Gewiß finden viele Vertreter der textbezogenen historischen Kulturwissenschaften eine solche Perspektive utopisch oder bedrohlich. Manche Kritiker der elektronischen Publikation sehen Wissenschaft, Religion und andere hohe Werte sogar an die Materialität des mit Druckerschwärze auf Papier gedruckten Textes gebunden14. Ihnen können wir mehrere Tatsachen entgegenhalten: 1. Höchst bedeutende religiöse Botschaften, philosophische Lehren und wissenschaftliche Entdeckungen wurden zunächst mündlich vermittelt - denken wir nur an Buddha und Jesus, Pythagoras und Sokrates. 2. Die Qualität der Rezeption schriftlich niedergelegter Gedanken wird nicht von der Schrift als solcher bestimmt, die nur "tote Geistesspur" ist15, sondern von der Energie schöpferischer Aneignung. 3. Die Schrift selbst hat im Lauf der Geschichte vielfache Wandlungen ihrer Materialität erfahren: Als Beschreibstoff gebrauchte man Ton, Stein, Papyrus, Pergament, Wachstafel, Baumrinde, Palmblatt, Schiefertafel, Papier und anderes mehr, als Schreibwerkzeug Meißel, Stichel, Pinsel, Feder, Griffel, Kreide, Bleistift, Kugelschreiber und anderes, als mechanischen Apparat Druckform mit Druckerpresse und die Schreibmaschine. Alle diese Wandlungen haben die Funktion der Schrift offenbar eher erweitert als beeinträchtigt. Warum sollte es sich mit der elektronischen Kodierung von Schriftzeichen und Bildpunkten anders verhalten? 4. Elektronische Texte und Bilder sind oft nicht Endprodukte, sondern nur Zwischenstufen im Informationsprozeß. Die Dateien können ausgedruckt werden. Dabei kann der Nutzer (oder auch der Verleger) Typographie, Layout, Farbe und Papierqualität des Ausdrucks weitgehend selbst bestimmen und so dem Dokument die seinen Wünschen entsprechende physische Gestalt geben.

Durch die elektronische Publikation bedroht sieht man auch die Verlage, die traditionell als die wichtigsten publizistischen Agenten der Wissenschaft gelten. Ihnen schreibt man eine zugleich belebende und regulierende Wirkung auf die wissenschaftliche Kommunikation zu. Ob diese Annahme generell zutrifft, soll ein Blick auf die Publikationssituation im Bereich der neulateinischen Philologie zeigen. 1. Die zum Teil schon vor Jahrzehnten begonnenen oder geplanten Neuausgaben großer lateinischer Dichter Deutschlands (Celtis, Eobanus Hessus, Lotichius, Frischlin u.a.) sind zumeist nicht zügig vorangekommen. Die Verlage haben bei diesen Vorhaben, soweit erkennbar, oft nicht stimulierend, sondern eher hemmend gewirkt. 2. Selbst bei weniger aufwendigen Projekten wie Teilausgaben und Nachdrucken signalisieren lange Liegezeiten abgelieferter Manuskripte, häufige Verlagswechsel von Reihen und jahrzehntelange Subskriptionskampagnen für Nachdrucke, daß außerhalb der Massenfächer die buchhändlerische Basis der wissenschaftlichen Publikation heute schwindet. 3. Viele Buchausgaben werden nur durch Druckkostenzuschüsse ermöglicht, und diese kommen keineswegs immer von urteilsfähiger Seite (wie z.B. der DFG), oft sogar von den Autoren selbst. 4. Vielfach fordert ein Verlag aus Kostengründen, daß der wissenschaftliche Apparat einer Edition oder Darstellung gekürzt oder ein die Quellen dokumentierender Anhang unterdrückt wird - sehr zum Nachteil des wissenschaftlichen Lesers. 5. Publikationen, die ihrer Natur nach nur einen geringen Absatz erwarten lassen, werden, sofern überhaupt produziert, zu einem Preis angeboten, der private Interessenten und zunehmend auch Bibliotheken vom Kauf abschreckt. Versucht der Verlag, der Gefahr geringen Absatzes mit gesteigertem Werbeaufwand zu begegnen, dann schraubt er den Preis noch weiter in die Höhe. So wird immer häufiger der Zweck einer Verlagspublikation, nämlich die allgemeine Verfügbarkeit des publizierten Werks, nicht mehr voll erreicht.

Die zunehmende Differenzierung der Wissenschaft bringt immer mehr Disziplinen in eine publizistische Notlage16. Außerhalb der Kulturwissenschaften hat man daraus längst die Konsequenz gezogen, die sogenannte "graue" Literatur, die ohne Beteiligung des Buchhandels produziert und verbreitet wird, zu akzeptieren. Daß damit der öffentliche Charakter der Wissenschaft untergraben werde, braucht man gerade bei der aktuellen Form dieser Publikationsart, der Veröffentlichung im WWW, nicht zu befürchten. Nirgendwo sind die Chancen auf weltweite Rezeption so gut wie bei einer an die Hauptstränge des fachlichen Informationsnetzes im WWW angebundenen, gebührenfrei und ohne Zeitverzug zugänglichen elektronischen Publikation (am besten natürlich einer solchen in englischer Sprache).

Die fachliche Kommunikation im Netz, die von finanziellen und zeitlichen Hemmnissen befreit ist, wird nicht nur die Menge wissenschaftlicher Informationen und Publikationen vermehren, sondern auch deren Charakter verändern. Hier gilt nicht mehr der Imperativ des Buchmarkts, der von seinem Produkt - jedenfalls überall da, wo nicht mit starker kurzfristiger Nachfrage zu rechnen ist - eine dauernde Gültigkeit fordert und das Renommee des Autors an den Bestand seines "Werkes" knüpft, also an dessen Unangreifbarkeit und Unüberholbarkeit. Es wird nun möglich, Arbeiten, die zwar unfertig, aber doch für andere nützlich sind, ins Netz zu stellen und sie zu einem kooperativen "work in progress" werden zu lassen. Das mag den Anhängern der heroischen Einsamkeit des Forschers verdächtig sein. Auf den Fortgang der Wissenschaft aber dürfte eine solche Verteilung der Arbeit auf mehrere Schultern und Köpfe förderlich wirken.

Ist die für die kleinen Fächer zunehmend mißliche Anbindung des wissenschaftlichen Prozesses an die schwerfällige Mechanik von Verlag, Buchhandel und Bibliothek einmal aufgelöst, dann läßt sich die publizistische Aufgabe der Wissenschaft aus einer neuen Perspektive bestimmen. Bei einer Verlagspublikation steht dann nicht mehr das Interesse des Autors im Vordergrund, vor seinen Fachkollegen den Nachweis wissenschaftlicher Leistung zu erbringen, sondern das Interesse eines größeren Publikums, an ausgewählten, reifen Früchten wissenschaftlicher Arbeit teilzuhaben. So könnte z.B. eine für den Buchmarkt bestimmte Edition eines Textes der Frühen Neuzeit als Studienausgabe konzipiert werden; der zugehörige wissenschaftliche Apparat aber und die genaue Dokumentation der Quellen würden für die wenigen interessierten Forscher im elektronischen Medium - auf Diskette, auf CD-Rom oder im WWW - bereitgestellt. Dieses Nebeneinander von konventioneller und elektronischer Publikation wird z.B. von dem Constantijn Huygens Institut der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften praktiziert17. Es hat sich dort bewährt - zum Vorteil nicht nur der Forschung, sondern auch der Verlage und der von ihnen bedienten größeren Öffentlichkeit.

Gibt es aber für gedruckte Quellen der Frühen Neuzeit außerhalb der Fachkreise überhaupt noch ein Publikum? Es ist heute schwer zu beurteilen, inwieweit für den Rückgang des allgemeinen Interesses der Mangel an geeigneten Angeboten selbst verantwortlich ist. Daß es Museen mit historischen Artefakten aller Art derzeit gelingt, immer mehr Besucher anzuziehen, sollte diejenigen, denen das gedruckte Erbe der Frühen Neuzeit - nicht nur zur Erhaltung und Erforschung, sondern auch zur Vermittlung! - anvertraut ist, zu ähnlicher Bemühung anspornen. Die Studien- und Liebhaberausgabe, die neben dem Originaltext Einführung, Übersetzung, Erläuterungen und möglichst auch Illustrationen in handlichem Format zu einem mäßigen Preis bietet, ist im Bereich der neulateinischen Literatur selten18. Bücher allein reichen jedoch nicht aus, eine Literatur lebendig zu erhalten: Daß sprachliche Werke in unterschiedlichen medialen Formen realisiert werden, ist eine Bedingung ihrer öffentlichen Wirkung. Heute wird außerhalb des Theaters die "Aufführung" von Texten der Frühen Neuzeit in Lesung, Rezitation und gestischer Aktion kaum praktiziert19. Selten genutzt wird auch die Chance, bildliche und sprachliche Darstellungen eines Motivs oder Stoffes in einer Veranstaltung zusammen zu präsentieren, so daß sie sich gegenseitig erhellen. Daß auch das digitale Medium Wege der Vermittlung frühneuzeitlicher Texte an ein allgemeines Publikum eröffnet, will ich nun an einem weiteren Beispiel aus meinem Arbeitsbereich zeigen.

Multimedia

Die Multimedia-CD-ROM "Die 21 schönsten aesopischen Fabeln" ist als "Lernumgebung" konzipiert. Sie bietet Seitenabbildungen aus frühen Fabelbüchern mit allerlei Verständnishilfen, Hintergrundinformationen und Parallelversionen und versetzt so den Nutzer in die Lage, mit dem alten Text selbständig umzugehen. Ruft er über das Menü "Titelwahl" eine bestimmte Fabel auf, dann erblickt der Betrachter eine illustrierte Seite des Ulmer Aesop von 1476 oder wahlweise des Basler Esopus von 1501. Er kann das Seitenabbild abrollen oder die Seite zum Vollbild verkleinern, den Text aber auch ausblenden, so daß die Illustration allein dasteht. Kann er die Typographie des Frühdrucks nicht entziffern, so wird ihm parallel dazu die moderne Umschrift geboten. Will er den lateinischen oder frühneuhochdeutschen Text hören, so läßt er sich die Tonwiedergabe vorspielen. Frühneuhochdeutsche Wörter, die heute nicht mehr verständlich sind, werden ihm erklärt. Die lateinischen Texte sind überdies neu übersetzt, textkritisch und stilistisch kommentiert, mit den Versionen von Phaedrus (Original und Übersetzung) und La Fontaine konfrontiert und in ihrem Gehalt interpretiert. Auch die Illustrationen sind charakterisiert und erläutert. Will der Leser die Fabelliteratur und ihre Illustration in ihrer historischen Entwicklung verstehen, kann er entsprechende Überblicksdarstellungen aufrufen. Über Herstellung und Vertrieb der Frühdrucke erhält er ebenfalls Auskunft - bis hin zu Einblicken in die Druckerwerkstatt des Gutenberg-Museums in Mainz.

Ein so weitgefächertes Informationsangebot unterstützt den Leser, der nicht über ausgedehnte Kenntnisse der Einzelheiten und großen Zusammenhänge verfügt, und erlaubt ihm eine von seinen augenblicklichen Bedürfnissen und Interessen gesteuerte Auswahl. Der Blick auf unterschiedliche Erscheinungsformen desselben Textes, auf verschiedene Bearbeitungen einer Fabel und auf unterschiedliche Arten ihrer Illustration fordert den Vergleich heraus. Ist der Leser über die Hintergründe und Zusammenhänge informiert, erhellen sich Allgemeines und Besonderes wechselseitig. Neben der aktiven intellektuellen Verarbeitung kann die Multimedia-CD-ROM auch den spielerischen Umgang mit dem Dargebotenen fördern. Wie in einem Baukasten für literarische Bastler läßt sich die Folge und Zusammenstellung der Dokumente und Informationen nach dem Willen des Nutzers arrangieren.

Ein Angebot wie dieses fügt den herkömmlichen Formen der Literaturvermittlung eine neue hinzu, die in der komplexen Struktur des nichtlinearen Hypertextes eine sonst unerreichbare Vielfalt medialer Repräsentation und inhaltlicher Information realisiert. Schon immer haben Theater, Rezitation und Vorlesen sowie Illustration und Kommentar Texte zum Leben erweckt, sie sinnlich erfahrbar und besser verständlich gemacht. Der multimediale Hypertext nimmt mit neuen Mitteln uralte Strategien literarischer Mitteilung wieder auf.

Das Interesse der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die unsere Fabel-CD in ihr Programm aufgenommen hat, und die Nominierung dieser CD für den Deutschen Bildungssoftwarepreis Digita2000 bestätigen uns, daß Konzeption und Ausführung der CD von Experten gebilligt werden; doch über ihren Erfolg bei den Adressaten ist damit noch wenig gesagt. Es bedarf wohl noch langer Gewöhnung, bis Multimedia-Anwendungen als Lern- und Bildungsmittel derselben konzentrierten Aufmerksamkeit gewürdigt werden wie das Buch. Die heute gängige Polarisierung von Buch und digitalem Medium wird beiden nicht gerecht. Hat eine unendlich differenzierte Mediengattung wie bedrucktes Papier oder digitale Information denn wirklich einen klar umrissenen Charakter und ein ihr innewohnendes Wesen? Die Geschichte des Lesens lehrt uns, daß Druckschriften im Lauf der Zeiten sowie in verschiedenen Bildungs- und Gesellschaftsschichten und in diversen Gebrauchssituationen auf ganz unterschiedliche Weisen rezipiert wurden, die mehr von den Intentionen der Rezipienten als von einer feststehenden "Natur" des Mediums bestimmt waren. Diese Freiheit hat der Nutzer auch heute gegenüber den Neuen Medien. Er sollte sie sich nehmen und nicht einem klischeehaften Pauschalurteil folgen.

Zusammenfassung

Abschließend stelle ich das Potential der digitalen Publikation alter Drucke in fünf Thesen noch einmal vor Augen und skizziere Schritte zu seiner Realisierung.

  1. Der von einer Bibliothek produzierte und im WorldWideWeb gebührenfrei zur Verfügung gestellte digitale Nachdruck erfordert nur etwa ein Zwölftel des Aufwands, den Bibliotheken gewöhnlich für den konventionellen, in einem Verlag erschienenen Nachdruck aufbringen. Da die Bibliotheken in den vergangenen Jahrzehnten in der Lage waren, den Verlagen Tausende von Nachdrucken und Zehntausende der ebenfalls nicht billigen Mikrofichereproduktionen alter Drucke abzunehmen, werden sie in den kommenden Jahrzehnten wohl auch imstande sein, Zehntausende von alten Drucken zu digitalisieren und im WWW bereitzustellen. - Die Auswahl eines solchen Kernbestandes und zugleich der für das Einscannen geeigneten Exemplare erfordert ein koordiniertes Vorgehen von Bibliotheken und historischen Kulturwissenschaften.
  2. Der digitalen Abbildung muß eine digitale Erschließung beigegeben werden, die den direkten Zugriff auf einzelne Werke und Dokumente innerhalb eines Buchs und auf einzelne Kapitel und Illustrationen innerhalb eines Werks gestattet. - Auch dabei sollten die Bibliotheken und die wissenschaftlichen Disziplinen kooperieren.
  3. Die Volltextdatenbank ist als ungeheuer ergiebige Ressource der textbezogenen Forschung in allen Disziplinen, die Texte zum Gegenstand haben, künftig unverzichtbar. - Bibliotheken und andere wissenschaftliche Institutionen sollten sich auch hier durch Eigenproduktion aus der Abhängigkeit von den Verlagen befreien, die für ihre Angebote teilweise horrende Kaufpreise oder Zugriffsgebühren verlangen.
  4. Die Verknüpfung digitaler Dokumente unterschiedlicher Art in einer multimedialen Anwendung ermöglicht es, den literarischen und pragmatischen Kontext eines sprachlichen Werks zu vergegenwärtigen. Zugleich können dem Leser Verständnishilfen elementarer Art - z.B. die Umschrift ungewohnter typographischer Zeichen, die Auflösung von Abkürzungen, Erklärungen seltener Wörter - an die Hand gegeben werden. So sind Textzeugnisse der Frühen Neuzeit auch Interessenten ohne fachliches Rüstzeug nahezubringen. - Die Treuhänder des gedruckten Erbes sollten diese Chance ergreifen, um den Texten der Vergangenheit im kulturellen Leben der Gegenwart eine ebenso breite Wirkung zu sichern, wie sie alter Musik und Kunst schon lange gewiß ist.
  5. Die digitale Publikation ist geeignet, der Fachwelt Resultate und Hilfsmittel wissenschaftlicher Arbeit ohne große Kosten und damit ohne Rücksicht auf buchhändlerisches Kalkül zur Verfügung zu stellen. Dies kommt auch der Aufarbeitung der Quellen historischer Disziplinen zustatten. Übersetzungen und Erläuterungen können nun ohne Zwang zum abgeschlossenen, auf lange Sicht gültigen Werk mitgeteilt und kooperativ ergänzt und verbessert werden. Den Verlagen aber bietet sich die Möglichkeit, aufgrund der im WWW bereit gestellten Vorarbeiten, zu denen auch die maschinenlesbare Erfassung und Kodierung des bearbeiteten Textes gehört, ohne großen Aufwand und schwer kalkulierbare Risiken eine Ausgabe zu veranstalten, die für ein größeres Publikum bestimmt und vom Ballast der nur die Forschung interessierenden Nachweise und Diskussionen befreit ist. So erscheint das digitale Medium nicht mehr als eine sich selbst genügende Alternative zum Buchdruck, sondern als das geeignete Vehikel, große Informationsmengen zu speichern, zu versenden, zu verknüpfen, zu verändern (fortzuschreiben) und für verschiedene Ausgabeformen (auch den Druck!) zu formatieren. - Spekulationen über das "Wesen" des gedruckten Worts und der digitalen Kommunikation im allgemeinen pflegen eine verengte Sicht der als konträr empfundenen Medien, indem sie das materielle Substrat des sprachlichen Zeichens hypostasieren. Nützlicher als solche Spekulation wäre die empirische Analyse, die einzelne Ausprägungen dieser Medien in spezifischen Regelkreisen der Information und Kommunikation untersucht und ihre Stärken und Schwächen aufzeigt. Nur dann läßt sich die Rolle, die Verlagen und Bibliotheken zukommen soll, für die verschiedenen Bereiche der Wissenschaft angemessen bestimmen. In den textbezogenen historischen Kulturwissenschaften eröffnet die elektronische Publikation den Bewahrern der Quellen, also den Bibliotheken, und ihren Erklärern, den Wissenschaftlern, ein reiches Betätigungsfeld. Beide Gruppen sollten sich das Instrumentarium der digitalen Publikation zu eigen machen und die großartige, unverhoffte Chance nutzen, den Objekten ihrer Arbeit wieder mehr Präsenz und Gewicht zu verschaffen.

Die humanistischen Gelehrten der Frühdruckzeit priesen das neue Medium des Buchdrucks als Gabe Gottes und waren sich nicht zu schade, als Herausgeber und Korrektoren in Druckereien zu arbeiten. Zugleich aber pflegten sie verstärkt den mündlichen Umgang mit der Sprache der gelehrten Welt; sie memorierten und rezitierten das Latein, parlierten und agierten in lateinischer Sprache mehr als die Generationen vor ihnen20. Auch gaben sie ihren gedruckten Texten persönliche Widmungen, Anreden an den Leser und Mitteilungen über sich selbst bei21. So gelang es ihnen, die unpersönliche Uniformität, die dem neuen Medium anhaftete, zu kompensieren.

Heute verleiten uns Fülle und Flüchtigkeit der elektronisch vermittelten Information dazu, dem Neuen und kurzfristig Interessanten mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Dauernden und langfristig Brauchbaren. Auch in unserer Lage aber dürfte nicht Abstinenz, sondern eine kompensatorische Strategie zu empfehlen sein, die dem Vorgehen der Humanisten um 1500 entsprechen könnte. So sollte man sich bemühen, im Umgang mit sprachlichen Äußerungen der Vergangenheit und Gegenwart, in welcher Form auch immer sie begegnen, stets das eigene Sprachvermögen zu entwickeln und zu bereichern, wie es die Bildungskonzeption des frühneuzeitlichen Humanismus vorsah. Zugleich sollte man die neue Medientechnologie, wie es die Humanisten mit dem Buchdruck taten, in den Dienst von Zwecken stellen, die außerhalb ihres gewöhnlichen Wirkungsbereichs liegen, hier also in den Dienst der Vergegenwärtigung des alten Buches. Beide Aufgaben fordern die historischen Kulturwissenschaften zu intensivem Engagement heraus.


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