Anlässlich der aktuellen Corona-Pandemie soll das Seminar aufzeigen, dass Epidemien ein archetypisches Thema darstellen, das in der Literatur von den Anfängen an, in der Bibel und auch in der Literatur der griechischen und römischen Antike, von Homer und Thukydides bis Lukrez eine Rolle spielt und ebenso in der italienischen Literatur von Beginn an eine wichtige Stellung einnimmt (Boccaccio). Mit dem Decameron (1349-53) und den Promessi Sposi (1840-42) behandeln zwei Hauptwerke der italienischen Literatur, denen eine Schlüsselstellung innerhalb der Questione della lingua zukommt, die Pest: nämlich zum einen diejenige, die Florenz 1348 ereilte, und zum anderen diejenige, die die Stadt Mailand 1629 unter der spanischen Fremdherrschaft heimsuchte. Darüber hinaus kommt das Thema in Manzonis historischer Abhandlung Storia della colonna infame (1840) zum Tragen, durch die Anklage und Hinrichtung zweier sog. untori, der absichtlichen Verbreitung der Pest Verdächtigter. Neben der Literatur tritt die Seuche auch in der bildenden Kunst und dem Film zutage, so greift z.B. Otto Rippert 1919 im Film „Die Pest in Florenz“ während der Spanischen Grippe, der Millionen insbesondere auch junger Menschen zum Opfer fielen und die mehr Leben forderte als der Erste Weltkrieg, auf das historische Ereignis zurück, das bereits Boccaccio behandelt hatte. In der Literatur der Moderne übernimmt die thematische Ausrichtung auf Krankheit und Krise vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs wie auch der Spanischen Grippe eine zentrale Funktion, z.B. in Svevos Coscienza di Zeno (1923), wo es vom Individuum als Lebensthema schlechthin abgehandelt wird: „A differenza delle altre malattie la vita è sempre mortale. Non sopporta cure!“
Es soll in diesem Seminar darum gehen, anhand von Texten aus unterschiedlichen Epochen herauszuarbeiten und zu diskutieren, wie das Thema Pest und Pathologie in der Literatur seit seinen Anfängen behandelt wird, was sich in seiner Auffassung, auch aufgrund eines veränderten Wissenschaftsverständnisses, gewandelt hat und welche Problematiken hingegen archetypisch sind und den Menschen als solchen betreffen, wie z.B. die durch existentielle Angst ausgelöste Erstellung von Feindbildern.
Nach einem Ausblick auf die Problematisierung der Pest bei Albert Camus im historischen Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs und Widerstands – Camus greift auf philosophische Fragen Leopardis zurück – soll es abschließend mit Bezug auf die Gegenwart um die Frage gehen: Was bewirken Pathologien und deren Zuschreibungen in der Gesellschaft? In der italienischen Literatur der Gegenwart wird vor Corona das Thema der Pathologie insbesondere auf die Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit bezogen, und in diesem Zusammenhang stellen Literatur und Film provokant die Frage, welcher ‚Wahnsinn‘ eigentlich die Wirklichkeit auf die gefährlichste Weise entstellt. Auch der dystopische Roman Anna (2015) von Niccolò Ammaniti soll im Kontext der neueren Literatur berücksichtigt werden.
Das Seminar ermöglicht Schnitt- und Kreuzungspunkte zum HS von Prof. Dr. Stephanie Neu-Wendel; beide Seminare werden daher immer wieder zusammengeführt, um eine breitere Diskussionsbasis zu ermöglichen und gemeinsam von einem geplanten Gastvortrag zu profitieren.
Teilnahmebedingungen:
Verbindliche Anmeldung, regelmäßige und aktive Teilnahme, vorbereitende Lektüre der Texte, Bereitschaft zur Übernahme eines Referats.
Literatur (wird in Auszügen zur Verfügung gestellt):
Giovanni Boccaccio: Decameron, a cura di Vittore Branca, Torino: Einaudi 2016.
Alessandro Manzoni: I promessi sposi, a cura di Vittorio Spinazzola, Milano: Garzanti 1966, 1981.
Alessandro Manzoni: I promessi sposi – Storia della colonna infame, introduzione di Salvatore Silvano Nigro, Torino: Einaudi 2015.
Italo Svevo: La coscienza di Zeno, a cura di Cristina Benussi, Milano: Feltrinelli 2006.
Albert Camus: Die Pest, übers. von Uli Aumüller, Reinbek: Rowohlt 2012.
Niccolò Ammaniti: Anna, Torino: Einaudi 2015.
Filme:
Otto Rippert: Die Pest in Florenz, 1919.
Ciro D’Emilio: Un giorno all’improvviso, 2018.
Bonifacio Angius: Ovunque proteggimi, 2018.
Das Thema des Seminars kann in Abschlussprüfungen auch von Prof. Dr. Stephanie Neu-Wendel geprüft werden