Alles andere als perfekt

- Anne Landhäußer –

Eine bestimmte Form des Perfektionismus kann zu essgestörtem Verhalten führen.

Seit immer mehr junge Menschen Essstörungen aufweisen, werden Krankheitsbilder wie Magersucht und Bulimie in den Medien und an manchem familiären Esstisch ausführlich thematisiert. Weniger bekannt ist das sogenannte Binge Eating. Personen, die unter dieser Essstörung leiden, neigen zu regelmäßigen Essanfällen, während derer sie unkontrolliert und in kurzer Zeit große Mengen an Nahrungs­mitteln in sich hineinschlingen. Expertenschätzungen zufolge leiden in Deutschland zwischen 1,5 und 2 Millionen Personen an dieser Form des essgestörten Verhaltens.

Die kanadischen Psychologen Simon Sherry und Peter Hall haben nun untersucht, wodurch solche Essanfälle hervorgerufen werden. Hierzu ließen sie über 500 Studentinnen eine Woche lang allabendlich eine Art Tagebuch führen, wobei diverse Fragebogen ausgefüllt und Angaben über das Ess­verhalten des jeweiligen Tages gemacht werden mussten. Dabei bestätigte sich erneut, worauf bereits viele psychologische Studien hinwiesen: Perfektionismus – von vielen als positives Charakteristikum verstanden – ist eine Eigenschaft mit Schattenseiten. Unter gewissen Voraussetzungen nämlich kann das Streben nach Perfektion Essstörungen fördern.

Dabei muss man zwischen verschiedenen Formen von Perfektionismus differenzieren. Es macht einen eklatanten Unterschied, ob man selbst hohe Ansprüche an sich stellt und Höchstleistungen erzielen möchte, weil man persönlich das Bedürfnis danach verspürt, oder ob man glaubt, dass andere Personen hohe Ansprüche an einen stellen und man diesen genügen muss. Dieser sozial orientierte, das heißt auf die (vermuteten) Ansprüche anderer gerichtete, Perfektionismus ist es in erster Linie, der in einer starken Ausprägung wortwörtlich krank machen kann.

Sherry und Hall konnten zeigen, dass Studentinnen, die zu einem sozial orientierten Perfektionismus neigten, verstärkt von Essanfällen berichteten. Dieser Zusammenhang lässt sich folgendermaßen erklären: Die jungen Frauen, die einen starken sozial orientierten Perfektionismus aufwiesen, waren verstärkt Faktoren ausgesetzt, die als Auslöser für Binge Eating gelten können. Sie erlebten häufig Situationen, in denen sie den Eindruck hatten den Erwartungen anderer nicht zu genügen, und hatten deswegen oft Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl. Dies wiederum führte bei vielen dazu, dass sie sich gänzlich unrealistische Ziele hinsichtlich einer Gewichtsabnahme setzten – möglicherweise, weil sie, wenn schon nicht anderen gesellschaft­lichen Erwartungen, so zumindest dem Schlankheitsideal entsprechen wollten. Doch gerade extreme, schwer zu realisierende Diätvorhaben können zu Binge Eating führen, weil sie selten mit einer Kombination aus gesunder Kost und sportlicher Aktivität verfolgt werden, sondern vielmehr mit konsequentem Hungern, das aufgrund des extremen Kalorienmangels und insbesondere in Stresssituationen leicht in Essanfälle münden kann.

Anfällen von Binge Eating liegen also häufig Situationen zugrunde, bei denen Menschen das Gefühl hatten, den Ansprüchen anderer nicht zu genügen. Dabei sind diese Sorgen sicherlich oft völlig unbegründet. Für Menschen mit Essstörungen könnte es also hilfreich sein, gegebenenfalls gemeinsam mit einem Therapeuten, an ihrem – manchmal ganz schön ungesunden – Perfektionismus zu arbeiten.

Sherry, S. B., & Hall, P. A. (2009). The perfectionism model of binge eating: Tests of an integrative model. Journal of Personality and Social Psychology, 96 (3), 690–709.

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