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Wer weint, verliert?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Bahn und die Person Ihnen gegenüber beginnt zu weinen. Was denken Sie über diese Person? Und würden Sie ihr Hilfe anbieten?
Diesen Fragen ging ein Forschungsteam aus Ulm nach und untersuchte in drei Studien die Wirkung von emotionalem Weinen in alltäglichen Begegnungen. Mit dem Ansatz echter Alltagsberichte gingen die Forschenden über die Schwächen vorheriger Studien hinaus, die fast ausschließlich Reaktionen auf weinende Fremde in hypothetischen Szenarien abgefragt hatten. Das Forschungsteam nahm an, dass weinende Personen als weniger warm und kompetent wahrgenommen werden als nicht weinende Personen, insbesondere wenn es sich um Fremde handelt und wenn der Grund für das Weinen nicht ersichtlich ist.
Die Teilnehmenden berichteten rückblickend von einer persönlichen Begegnung mit einer weinenden Person in ihrem Alltag. Sie gaben an, ob es sich um eine fremde oder bekannte Person handelte, wie warm und kompetent sie die weinende Person in der Situation einschätzten, wie warm und kompetent sie die Person – falls bekannt – generell wahrnahmen und ob der Grund für das Weinen ersichtlich war. Zuletzt berichteten die Teilnehmenden, ob sie der weinenden Person halfen und falls ja, wie diese Hilfe aussah.
Entsprechend der Hypothesen wurden weinende bekannte Personen im Vergleich dazu, wie sie generell wahrgenommen wurden, als weniger warm und kompetent eingeschätzt. Auch wurden weinende fremde Personen weniger warm und kompetent wahrgenommen als weinende bekannte Personen. Zudem fiel die Einschätzung der Wärme und Kompetenz geringer aus, wenn der Grund des Weinens nicht ersichtlich war. Auch der spezifische Grund des Weinens spielte eine Rolle bei der Einschätzung: Personen, die laut Teilnehmenden aufgrund einer starken Verbundenheit zu einer anderen Person weinten, wurden wärmer und kompetenter wahrgenommen. Das Gegenteil war der Fall, wenn Personen aufgrund eines Konflikts weinten. Weinenden fremden Personen wurde weniger oft geholfen als weinenden bekannten Personen. Mündliche Zuwendung (z. B. fragen) war die häufigste Form der Hilfe, gefolgt von körperlichem Trost (z. B. umarmen) und Problemlösung (z. B. Ratschläge geben).
Mehr als drei Viertel der Teilnehmenden nannten eine bekannte Person, was die Relevanz verdeutlicht, auf Alltagsbeobachtungen zurückzugreifen, statt hypothetische Szenarien mit Fremden zu verwenden. Jedoch birgt ein solcher Ansatz die Gefahr der Erinnerungsverzerrung. Bestimmte Situationen mögen leichter zu erinnern sein, beispielsweise solche, in denen das Weinen durch Konflikte ausgelöst wurde.
Insgesamt legen die Ergebnisse der drei Studien nahe, dass die Vertrautheit zwischen Beobachtenden und Weinenden sowie der Grund des Weinens entscheidend dafür sind, wie weinende Personen wahrgenommen werden und ob ihnen geholfen wird. Falls Sie also eine Person in der Bahn oder an einem anderen Ort weinen sehen, mögen Sie vielleicht an diese Forschung denken und der Person Hilfe anbieten, auch wenn Sie die Person nicht kennen und nicht wissen, warum sie weint.
Barthelmäs, M., Stöckle, D., & Keller, J. (2024). On the social signal function of emotional crying: Broadening the perspective to social interactions in daily life. Emotion, 24(4), 960–974.https://doi.org/10.1037/emo0001313
Redaktion und Ansprechpartner*in¹: Lea Nahon ¹, Lucia Boileau
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