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„Wir“ oder „Ich“?

„In engen Partnerschaften werden sich Menschen immer ähnlicher“- so sagt man. Diese Beobachtung dürfte ihren Ursprung in dem Wunsch haben, der Partnerin oder dem Partner möglichst nahe zu sein und Gemeinsamkeiten zu teilen. Doch was passiert mit dem Bedürfnis nach Individualität in Beziehungen? Wann identifizieren wir uns eher mit der Partnerschaft und wann halten wir an unserer eigenen Person fest? Bedeutet Letzteres gleich eine Abkehr von der Beziehung?
Eine Forschungsgruppe um Erica B. Slotter fand Antworten in der Theorie der optimalen Distinktheit. Diese Theorie betrachtet das Spannungsverhältnis beider Bedürfnisse: Zum einen der Wunsch, sich einer größeren Einheit (wie einer Gruppe oder Partnerschaft) zugehörig zu fühlen, und zum anderen jener, sich unabhängig und individuell zu fühlen. Wenn eines dieser Bedürfnisse erfüllt ist, sollten sich Menschen laut der Theorie dem jeweils anderen Bedürfnis zuwenden. Ist man also als individuelle Person gestärkt, wird man sich stärker der Partnerschaft zuwenden und den Fokus auf Gemeinsamkeiten legen. Umgekehrt sollte das Empfinden von Nähe und Ähnlichkeit in der Beziehung einen stärkeren Fokus auf die eigene Individualität nach sich ziehen. Diese Wechsel stellen ganz normale Prozesse dar und sollten keinen Einfluss auf die Bewertung der Partnerschaft haben.
Zur Untersuchung dieser Hypothesen führte das Forschungsteam eine Studienreihe mit Personen durch, die sich mindestens drei Monate in einer Partnerschaft befanden. In den Studien sollten jeweils einige Teilnehmende über eine Zeit schreiben, in der sie sich ihrer Partnerin oder ihrem Partner sehr ähnlich gefühlt haben. Andere sollten hingegen über eine Zeit schreiben, in der sie fühlten, dass sie sich von ihrem Partner oder ihrer Partnerin unterscheiden. Anschließend wurde erfasst, wie viel Zeit die Teilnehmenden momentan in ihrer Partnerschaft verbringen möchten und wie sie ihre Beziehung allgemein bewerten. In einer der Studien konnten die Teilnehmenden zudem zwischen gleichwertigen Gutscheinen wählen, wobei einer eher auf ihre Individualität ausgerichtet war (Gutschein für Kleidung) und einer auf ihre Partnerschaft (Gutschein für ein romantisches Dinner zu zweit).
Wie erwartet, wollten diejenigen Teilnehmenden weniger Zeit mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner verbringen, die zuvor über eine Zeit geschrieben hatten, in der sie sich einander ähnlich fühlten – im Vergleich zu jenen, bei denen merkbare Unterschiede der Ausgangspunkt waren. Letztere wählten hingegen eher den Gutschein für das romantische Dinner und setzten weniger auf Individualität. Entsprechend der Theorie hatten diese unterschiedlichen Bestrebungen keinen Einfluss auf die Bewertung der Beziehung. Beide Gruppen waren vergleichbar zufrieden mit ihren Partnerschaften und erlebten ihre Beziehung als gleichermaßen intensiv und intim.
Die Ergebnisse zeigen uns, dass Menschen ein Gleichgewicht zwischen ihrer Identität als eigenständige Person und als Teil einer Beziehung anstreben. Wenn sich also die Partnerin oder der Partner das nächste Mal etwas zurückzieht, ist nicht gleich Panik angesagt. Vielleicht ist dies einfach nur der Versuch eine natürliche Balance herzustellen.
Slotter, E. B., Duffy, C. W., & Gardner, W. L. (2014). Balancing the need to be 'me' with the need to be 'we': Applying Optimal Distinctiveness Theory to the understanding of multiple motives within romantic relationships. Journal of Experimental Social Psychology, 5271–5281. doi:10.1016/j.jesp.2014.01.001
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