Teil­projekt 1: Philologischer Kommentar zur Vita Augustini des Possidius (Moritz Kuhn)

Die Augustinusvita des Possidius, des Bischofs von Calama, eines langjährigen Schülers und Weggefährten des Augustinus, ist die früheste Biographie des Kirchenvaters. Wie Augustinus selbst scheint Possidius aus Afrika zu stammen, jedenfalls befinden sich dort alle sicher bezeugten Stationen seines Lebens. Der Autor gibt an, sich in seiner Vita auf jene Jahre konzentrieren zu wollen, die nicht durch die Confessiones des Augustinus abgedeckt seien, da die Leser besser aus Augustinus‘ Mund von dessen Leben erfahren könnten. Paradoxerweise sind aber gerade für den Lebens­abschnitt, über den der Biograph zu schreiben beabsichtigt, durch die Fülle der theologischen Schriften, Predigten und Briefe Augustins so viele Details bezeugt wie für keine andere Person der Antike mit Ausnahme Ciceros. Und anders als bei Cicero, dessen Privatbriefe gegen seinen Willen postum publiziert wurden, liegen bei Augustinus nur von ihm autorisierte Quellen vor. Possidius hatte Zugang zu all diesen Dokumenten, wie sein Indiculus der Werke Augustins zeigt, der (im Unterschied zu der von Augustinus selbst verfassten Werkübersicht in den Retractationes) auch die Briefe und Protokolle seiner Disputationen mit den Donatisten und anderen Gruppen umfasst, die von Augustinus autorisiert wurden. Possidius schätzte diese Werke offenbar hoch, wie ein langes Briefzitat in Vit. Aug. 30,3–51 bezeugt. Da Augustinus es bis zu seinem Lebens­ende nicht für erforderlich hielt, diesen zahlreichen Zeugnissen eine Fortsetzung der Confessiones oder eine andere Form der Biographie hinzuzufügen, und Possidius die Selbstzeugnisse des Augustinus, wie er zu Beginn der Vita betont, seinem eigenen Schaffen vorzieht, stellt sich die Frage, warum er überhaupt als Biograph in den Diskurs um die Person des Augustinus eingreift. Was kann die Vita des Possidius bieten, das die von ihm geschätzten eigenen Schriften des Augustinus nicht leisten? Wie positioniert sich der Autor gegenüber seinem Gegenstand und wie wird diese Positionierung plausibel gemacht? Ist die Vita eine Fortsetzung der Confessiones (cf. FUHRER [2005] 5)? Oder glättet sie das in den Confessiones erzeugte Bild des Heiligen (cf. PELLEGRINO [1954] 24f.)? Welche biographischen und literarischen Eigenanteile bringt Possidius in seine Vita ein und wie lassen sie sich als Elemente der Augustinusrezeption fruchtbar machen? Diese Fragen sind in der Forschung oft nur implizit gestellt und meist im negativen Sinne beantwortet worden. Possidius füge dem Augustinusbild nichts Wesentliches hinzu, er sei ungebildet, habe die komplexe Theologie des Augustinus nicht angemessen berücksichtigt und zeige wenig Interesse an der Charakter­entwicklung des Augustinus. Einflussreich war vor allem die Einschätzung HARNACKs (1930). Zu einem entgegengesetzten Urteil kommen BERSCHIN (1986) 228 und MOHRMANN (1975) 328. Erst in jüngerer Zeit sind unter anderem durch die Arbeiten von HAMILTON (2004) zum afrikanischen Hintergrund der Augustinusvita und von ELM (2003) zum Bischofsbild der Spätantike neue Zugriffsweisen auf die Vita des Possidius erschlossen worden. Beide zeigen, dass Possidius durchaus eine eigene Agenda verfolgt, die auf originelle Weise in Szene gesetzt wird.
Derzeit fehlt jedoch, wie GEERLINGS in seiner zweisprachigen, mit knappen Anmerkungen versehenen Ausgabe von 2005 bemerkt, ein aktueller philologischer Kommentar, der die neu gewonnenen Ergebnisse in angemessener Weise einbezieht. Bisher kann sich die Forschung außer auf GEERLINGS‘ Anmerkungen nur auf die zwar instruktive, aber durch das Format bedingt ebenfalls knappe Kommentierung BASTIAENSENs in der zweisprachigen Ausgabe der Fondazione Lorenzo Valla von 1975 stützen, in die wiederum Anregungen aus der kommentierten Ausgabe von PELLEGRINO (1955) und WEISKOTTEN (1919) eingegangen sind. Die zweisprachigen kommentierten Ausgaben werden durch Einzel­studien ergänzt, die jedoch nur einzelne Aspekte hervorheben (Stil, Zitiertechnik etc.), ohne eine auf philologischer Durcharbeitung des Textes beruhende Gesamtwürdigung vorzunehmen.
Ziel meiner Arbeit ist es, einen philologischen Kommentar zur Vita Augustini zu liefern und den Text zunächst sprachlich ausführlich zu erschließen. In einem nächsten Schritt ist jedoch festzustellen, und an diesem Punkt ordnet sie sich in das DFG-Projekt ein, dass schon in der von Possidius gelieferten Vita die Gestalt des Augustinus maßgeblich vor dem historischen Hintergrund, nämlich der Völkerwanderung und der Verluste der afrikanischen Kirche durch die Bedrohung der Vandalen, dargestellt und dementsprechend stilisiert wird. Neben meiner Fokussierung auf die sprachlichen Aspekte, die der Text liefert, werden derartige inhaltliche Betrachtungen eine nicht geringe Rolle bei der Erschließung der literarischen Technik und der Argumentations­struktur der Vita Augustini spielen.

BASTIAENSEN, A.A.R.: Vita di Cipriano, Vita di Ambrogio, Vita di Agostino (Vite dei Santi 3). Mailand, 1975.
BERSCHIN, Walter: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter I: Von der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregor des Großen. Stuttgart, 1986.
ELM, Eva: Die Macht der Weisheit. Das Bild des Bischofs in der Vita Augustini des Possidius und anderen spätantiken und frühmittelalterlichen Bischofsviten. Leiden, 2003.
FUHRER, Therese: Augustinus. Darmstadt, 2004.
GEERLINGS, Wilhelm: Possidius, Vita Augustini. Zweisprachige Ausgabe, eingel., komm. und hrsg. von W. G. Paderborn, 2005.
HAMILTON, Louis L.: „Possidius‘ Augustine and Post-Augustinian Africa“. In: Journal of Early Christian Studies 12 (2004). S. 85–105.
HARNACK, Adolf von: Possidius, Augustins Leben. Eingel. u. übers. v. A.v.H. = APAW.PH (1930/1). Berlin, 1930.
MOHRMANN, Christine: „Zwei frühchristliche Bischofsviten: Vita Ambrosii, Vita Augustini“. AÖAW.PH 112 (1975). S. 307–361.
PELLEGRINO, Michele: Possidio. Vita di S. Agostino (eingel., hrsg., übers. und erl. von M.P. = VSen 4). Alba, 1955.
WEISKOTTEN, Herbert T.: Sancti Augustini Vita scripta a Possidio episcopo. Ed. with rev. text, introd., notes, and an Engl. version by H. W. Princeton, 1919