Vor Gerichtsgebäuden bekommen wir sie häufig zu sehen – Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit. Ausgestattet mit Waage und Richtschwert, die Augen hinter einer Binde verborgen, ist sie seit der Antike Sinnbild unseres Justizwesens. Die Symbole stehen für das genaue Abwägen eines Urteils sowie Objektivität. Denn laut Grundgesetz sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich – Recht soll ohne Ansehen der Person gesprochen werden. Doch wird die Realität diesem Anspruch tatsächlich gerecht?
Wie Forschung wiederholt gezeigt hat, kann das „Ansehen einer Person“ unseren Eindruck maßgeblich beeinflussen. So schließen Menschen meist schnell und mit großem Konsens allein vom Gesicht einer Person auf deren Vertrauenswürdigkeit. Obwohl sich alle relativ einig darüber zu sein scheinen, welches Gesicht sie mit welchem Etikett versehen, gibt es kaum wissenschaftliche Belege für die Gültigkeit dieser Einschätzungen. In der Regel scheint unsere Wahrnehmung uns demnach in die Irre zu führen. Besonders heikel wird diese Tendenz vor Gericht.
Die Wissenschaftler John Wilson und Nicholas Rule von der University of Toronto wollten herausfinden, wie es in der Realität um die Objektivität juristischer Entscheidungen bestellt ist. Hängt die über das Gesicht wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit einer Person mit dem Ausmaß ihrer strafrechtlichen Verurteilung zusammen? Diese Fragestellung untersuchten die Forschenden an dem drastischsten aller Schuldsprüche in den USA, dem Todesurteil.
Für ihre Untersuchung stellten die Forscher Fotomaterial von über 700 inhaftierten Männern aus Florida zusammen, die wegen Mordes entweder eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßten oder ihre Hinrichtung erwarteten. Die Gesichter wurden von Studienteilnehmenden auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin bewertet. Dabei wussten die Befragten nichts über den Hintergrund der Bilder. Würde sich selbst bei diesen realen Urteilen ein Zusammenhang zwischen dem „Ansehen“ und der Härte des Schuldspruches finden? Tatsächlich gingen weniger vertrauensvoll bewertete Gesichter mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Todesstrafe einher. Dieser Zusammenhang ließ sich nicht durch bestimmte, relativ offensichtliche Merkmale der Gesichter erklären – wie beispielsweise Tattoos, Attraktivität oder die Hautfarbe der Personen.
Allerdings könnte es sein, dass weniger vertrauenswürdig aussehende Personen extremere Straftaten begangen haben und deswegen eher die Todesstrafe erhielten. Um diese Erklärung auszuräumen, ließ das Forscherteam in einer weiteren Studie Gesichter von Männern bewerten, die fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt und anschließend wieder freigesprochen wurden. Selbst bei diesen als unschuldig erwiesenen Personen zeigte sich der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Vertrauenswürdigkeit aufgrund des „Ansehens“ und der Härte des ursprünglichen Urteils.
Die Ergebnisse verdeutlichen, wie stark das äußere Erscheinungsbild Entscheidungen beeinflussen kann. Nicht nur in der Justiz können diese Urteilsverzerrungen weitreichende Konsequenzen haben. Ein wichtiger Punkt wäre, unser Bewusstsein dafür zu schärfen.
Justitia wurden die Augen übrigens erst im 15. Jahrhundert verbunden. Damals galt die Binde noch als Zeichen des Spotts über die Blindheit der Justiz.
Wilson, J. P., & Rule, N. O. (2015). Facial trustworthiness predicts extreme criminal-sentencing outcomes. Psychological Science, 26, 1325–1331. doi: 10.1177/0956797615590992
Juristische Symbole. (2015, 1. Mai). In Gesetze und Rechte.de – Die juristische Informationsplattform rund um das deutsche Recht. Abgerufen von gesetze-und-rechte.de/juristische-symbole/
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