Bücher – eine andere Art der Beziehung?

- Silvia Rajec –

Das Ausmaß, in dem wir uns mit den ProtagonistInnen aus Büchern identifizieren, wird durch das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit beeinflusst.

20. Juli 2007: Massen wartender Fans fieberten dem Verkaufsstart des letzten „Harry Potter“-Bands entgegen. Was brachte diese Menschen dazu, sich zur Schlafenszeit in Buchläden einzufinden und zusammengedrängt auszuharren? Schließlich geht es in den Fantasyromanen von Joanne K. Rowling um den Kampf eines Jugendlichen gegen einen finsteren Magier – nichts, was wir nicht schon vielfach in anderen Büchern gelesen hätten. Mit ähnlichen Kuriositäten kann der Bestseller „Twilight“ von Stephenie Meyer aufwarten. Unzählige junge Mädchen planten nach der Erscheinung der Bände ihren Urlaub an den Drehort Forks und nahmen an sogenannten „Twilight-Stadtführungen“ teil.

Die Psychologinnen Shira Gabriel und Ariana Young haben untersucht, woher eine derartige Faszination für Bücher und deren Charaktere kommen kann. Die Forscherinnen nahmen an, dass das Verlangen nach sozialer Zugehörigkeit durch das Lesen von Büchern befriedigt werden kann. Besonders wichtig soll dabei die Identifikation mit den meist sympathischen und oft heldenhaften ProtagonistInnen sein.

Getestet haben die Forscherinnen ihre Hypothese in einer Studie mit 140 Teilnehmenden. Zum einen füllten diese einen Fragebogen aus, mit dem gemessen werden sollte, inwieweit das Selbstbild der Personen geprägt ist von ihren Beziehungen zu anderen. Sie bewerteten darin Aussagen wie: „Wenn ich einer Gruppe beitrete, entwickle ich für gewöhnlich ein starkes Gefühl der Identifikation mit der Gruppe.“ Zum anderen lasen sie entweder einen Abschnitt aus „Twilight“ oder aus „Harry Potter“. Abschließend wurde den ProbandInnen ein Fragebogen gegeben, mit dem die Identifizierung mit den ProtagonistInnen untersucht wurde. Darin beantworten die TeilnehmerInnen Fragen wie: „Denken Sie, Sie könnten irgendwann einmal in der Lage sein, sich in Luft aufzulösen und an einem anderen Ort wieder aufzutauchen?“, oder:  „Wie scharf sind Ihre Zähne?“

Das Ergebnis war, dass – wie die Forscherinnen bereits vermutet hatten – die „Twilight“ lesenden ProbandInnen zu Vampiren und die Teilnehmenden der Harry Potter-Bedingung zu Zauberern „wurden“. Dieser Effekt trat allerdings nur bei denjenigen Personen auf, deren Selbstbild geprägt ist von sozialen Beziehungen.

Diese Ergebnisse legen Gabriel und Young zufolge nahe, dass Lesen in manchen Fällen tatsächlich zu einer momentanen Angleichung an die Charaktere führt und damit ein wichtiges psychologisches Bedürfnis befriedigt – das Verlangen nach sozialer Zugehörigkeit und Einbettung. Indem man fiktiv die Situationen der ProtagonistInnen miterlebt, fühlt man mit, denkt in deren Bahnen und identifiziert sich schließlich mit ihnen. Gäbe es kein zugrunde liegendes Bedürfnis des Dazugehörenwollens, würde man vielleicht viel seltener nach einem Roman greifen – und es bliebe ein Geheimnis, was Tausende Menschen um Mitternacht in einer Buchhandlung machen.

Gabriel, S. & Young, A. F. (2011). Becoming a Vampire Without Being Bitten: The Narrative Collective-Assimilation Hypothesis. Psychological Science, 20 (10), 1–5.

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