2013 feiert er seinen 130. Geburtstag und unzählige Frauen können bis heute nicht ohne ihn – der Lippenstift. Trotz seiner Beliebtheit sollte man meinen, dass der Absatz von Lippenstiften in Zeiten wirtschaftlicher Krisen abfällt. Ein Blick in die Statistik zeigt jedoch, dass entgegen allgemeiner Spartendenzen während Wirtschaftsflauten sogar vermehrt in Schönheitsprodukte investiert wird.
Dieser Zusammenhang wird als Lippenstift-Effekt bezeichnet. Ein amerikanisches Forschungsteam um Sarah E. Hill hat ihn kürzlich näher unter die Lupe genommen. Aufgrund evolutionspsychologischer Annahmen gingen sie davon aus, dass Wirtschaftskrisen für Frauen eine geringere Anzahl an versorgungsfähigen Männern signalisieren. Um ihre Chancen zu erhöhen, einen der wenigen Männer mit ausreichenden Ressourcen für sich zu gewinnen, sollten Frauen mehr Aufwand betreiben, ihre physische Attraktivität zu steigern. Diese stellt einen Indikator für Fruchtbarkeit und gute Gene dar – Kriterien, die laut Evolutionspsychologie entscheidend für männliche Partnerpräferenzen sein sollten. Der Effekt verstärkter Attraktivitätsbemühungen ist bei Männern hingegen nicht zu erwarten, da die Anzahl der attraktiven und fruchtbaren Frauen durch Rezessionen nicht direkt beeinflusst werden sollte.
Diese Annahmen wurden in mehreren Studien des Forschungsteams überprüft. Zunächst konnten sie in einem Vortest zeigen, dass allein die Konfrontation mit der Wirtschaftskrise in einem Text dazu führte, dass Personen weniger wohlhabende – nicht aber weniger attraktive – Menschen in ihrem näheren Umfeld vermuten. Die Teilnehmenden der anschließenden Studie lasen entsprechend einen Zeitungsartikel, dessen Inhalt sich entweder mit der Wirtschaftskrise oder mit einem neutralen Thema (Architektur) befasste. Danach wurden sie in einer augenscheinlich unabhängigen Umfrage befragt, wie gerne sie bestimmte Produkte kaufen würden. Einige dieser Produkte waren attraktivitätsfördernd, wie ein Lippenstift für Frauen oder eine Gesichtscreme für Männer, während die anderen Produkte nicht der Schönheit dienten.
Männer, die den Artikel über die Wirtschaftskrise gelesen hatten, gaben – wie bei einer Rezession zu erwarten – allgemein geringere Kaufintentionen als Leser des Architekturartikels an. Auch bei Frauen zeigte sich dieser Effekt – allerdings nur bei nicht-attraktivitätsfördernden Produkten. Für attraktivitätsfördernde Produkte äußerten sie nach dem Lesen über die Wirtschaftskrise hingegen sogar erhöhte Kaufwünsche: Der Lippenstift-Effekt! Wird Frauen die Rezession vor Augen geführt, scheinen sie tatsächlich verstärkt in Schönheitsprodukte investieren zu wollen.
In weiteren Studien konnte das Forschungsteam die Ergebnisse replizieren. Dabei zeigte sich weiterhin, dass Schönheitsprodukte nicht einfach einen günstigen Luxus in Zeiten der Rezession darstellen und deshalb häufiger gekauft werden, sondern die Wahrnehmung einer attraktivitätssteigernden Wirkung (z.B. durch entsprechende Webeslogans) tatsächlich entscheidend ist. Der Lippenstift-Effekt konnte zudem teilweise auf den verstärkten Wunsch von Frauen nach einem finanziell abgesicherten Lebenspartner zurückgeführt werden. So trat er insbesondere bei Frauen auf, die sich auf der Suche nach einer langfristigen Beziehung befanden.
Diese Befunde liefern uns einen Einblick in die Mechanismen hinter dem Lippenstift-Effekt. So wird die Anzugskraft von Schönheitsprodukten in Zeiten wirtschaftlicher Knappheit auch jenseits des Jubiläums des guten alten Lippenstifts verständlicher.
Hill, S. E., Rodeheffer, C. D., Griskevicius, V., Durante, K., & White, A. E. (2012). Boosting beauty in an economic decline: Mating, spending, and the lipstick effect. Journal of Personality and Social Psychology, 103, 275–291. doi: 10.1037/a0028657.
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