Die Reise zum Ich

- Linda Mössinger –

Ein längerer Auslands­aufenthalt kann zu einem klareren Selbstbild beitragen und dadurch zu mehr Klarheit bezüglich der beruflichen Laufbahn verhelfen.

In der heutigen Zeit sind Auslands­aufenthalte nahezu selbstverständlich. Beispielsweise brechen unzählige junge Erwachsene nach der Schule auf, um für einige Zeit die Welt zu bereisen. Die Gründe dafür? Häufig ist es der Wunsch, sich selbst zu finden oder sich darüber klar zu werden, wie es beruflich weitergehen soll. Können Auslands­aufenthalte tatsächlich dabei helfen, diese Wünsche zu erfüllen?

Ein amerikanisches Forschungs­team um Hajo Adam beschäftigte sich mit dieser Frage in einer Reihe von Studien. Das Leben im Ausland ermöglicht die Beschäftigung mit Normen, Werten und Verhaltensweisen einer anderen Kultur. Die Forschenden vermuteten daher, dass Menschen sich während eines Auslands­aufenthalts eher darüber klar werden, ob bestimmte Teile ihrer Persönlichkeit wirklich definieren, wer sie sind, oder ob sie bloß ihre kulturelle Erziehung widerspiegeln. Wenn beispielsweise ein immer pünktlicher Deutscher zeitweise in einem Land lebt, in dem Pünktlichkeit nicht sehr großgeschrieben wird, dann sollte ihm dadurch eher klar werden, ob Pünktlichkeit wirklich ein Teil seiner selbst ist oder ob sie ihm von der deutschen Kultur „anerzogen“ wurde. Auslandaufenthalte sollten also die Selbstreflexion fördern und dadurch zu einem klareren Selbstbild verhelfen.

In einer Studie befragte das Forschungs­team über 250 Teilnehmende, von denen etwa die Hälfte schon einmal im Ausland gelebt hatte. Die andere Hälfte der Teilnehmenden hatte zwar noch nicht im Ausland gelebt, gab aber an, einen Auslands­aufenthalt zu planen. Dadurch konnte kontrolliert werden, dass Personen, die zeitweise im Ausland leben möchten, nicht schon vor dem Auslands­aufenthalt ein klareres Selbstbild besitzen als Personen, die keinen Auslands­aufenthalt in Erwägung ziehen. Alle Teilnehmenden beantworteten sowohl Fragen zur Klarheit des eigenen Selbstbilds (z. B. „Generell habe ich ein klares Gefühl dafür, wer und was ich bin.“) als auch Fragen zur Selbstreflexion (z. B. „Ich weiß sicher, ob meine Persönlichkeit dadurch definiert wird, wer ich wirklich bin oder durch die Kultur, in der ich aufgewachsen bin.“).

Die Studien­ergebnisse zeigten, dass Personen, die bereits im Ausland gelebt hatten, ein klareres Selbstbild berichteten als Personen, die ihren geplanten Auslands­aufenthalt noch vor sich hatten. Es wurde zudem gezeigt, dass das klarere Selbstbild nach einem Auslands­aufenthalt zum Teil durch eine höhere Selbstreflexion erklärt werden konnte.

In einer weiteren Studie konnte das Forschungs­team außerdem zeigen, dass es vor allem die Länge von Auslands­aufenthalten ist – und nicht die Anzahl der Länder, in denen man bereits gelebt hat – die ein klareres Selbstbild begünstigt. Darüber hinaus führte ein klareres Selbstbild nach längeren Auslands­aufenthalten zu mehr Klarheit über die beruflichen Ziele.

Wir können also allen reiselustigen jungen Erwachsenen dieser Welt mit auf den Weg geben: Das Leben im Ausland für einen längeren Zeitraum kann tatsächlich den Wunsch erfüllen, sich ein Stück weit selbst zu finden und sich dadurch auch in beruflicher Hinsicht besser orientieren zu können.

Adam, H., Obodaru, O., Lu, J. G., Maddux, W. W., & Galinsky, A. D. (2018). The shortest path to oneself leads around the world: Living abroad increases self-concept clarity. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 145, 16–29. doi:10.1016/j.obhdp.2018.01.002

Redaktion und Ansprech­partnerIn*: Jennifer Eck*, Maria Douneva

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