„Die sehen doch alle gleich aus“

- Rainer Greifeneder –

Die Gesichter von Personen, die einer anderen Ethnie angehören als wir selbst, können wir schlecht auseinander halten.

 Wir sind Meister darin, Gesichter wiederzuerkennen. Selbst wenn uns der Name einer Person nicht mehr einfällt, so wissen wir meistens sehr genau, ob wir sie schon einmal gesehen haben oder nicht. Im Allgemeinen trifft dies allerdings nur auf Gesichter unserer eigenen ethnischen Gruppe zu – bei Gesichtern anderer ethnischer Gruppen gelingt uns das Wiedererkennen sehr viel schlechter. Ein „Weißer“ (Kaukasier) kann also bestens Gesichter anderer Kaukasier erkennen und unterscheiden, während er sich bei afrikanischen oder asiatischen Gesichtern schwer tut. Woran liegt das? Eine Möglichkeit könnte sein, dass sich afrikanische oder asiatische Gesichter untereinander ähnlicher sind, als das bei kaukasischen Gesichtern der Fall ist – doch das stimmt nicht, denn die Unterschiedlichkeit der Gesichtszüge ist in allen untersuchten ethnischen Gruppen ähnlich groß. Eine andere Möglichkeit wäre, dass nur Kaukasier die Gesichter anderer ethnischer Gruppen schlecht unterscheiden können, während zum Beispiel Afrikaner oder Asiaten besser darin sind, Gesichter anderer ethnischer Gruppen zu unterscheiden. Stimmt aber auch nicht, denn der sogenannte „Other-Race-Effect“ tritt in allen ethnischen Gruppierungen auf. Die Erklärung ist vielmehr, dass wir im Laufe unseres Lebens vornehmlich mit Menschen der eigenen ethnischen Gruppe in Kontakt sind, und daher sehr viele verschiedene Gesichter aus unserer eigenen Gruppe, nicht jedoch aus anderen ethnischen Gruppen kennen. Dieses einseitige Sammeln von Erfahrungen führt dazu, dass wir vorrangig Gesichter der eigenen ethnischen Gruppe unterscheiden können.

Eine Forscher­gruppe um David Kelley wollte nun wissen, in welchem Alter der „Other-Race-Effect“ auftritt. Zeigen nur Erwachsene derartig unterschiedliche Fähigkeiten beim Wiedererkennen verschiedener Gesichter, oder können auch schon Kinder und Babys besser zwischen Gesichtern der eigenen ethnischen Gruppe im Vergleich zu Gesichtern anderer ethnischer Gruppen unterscheiden? Befunde anderer Forschungs­gruppen deuten darauf hin, dass sich der „Other-Race-Effekt“ schon früh entwickelt. David Kelley und seine Kollegen wollten es jedoch genauer wissen und haben daher drei, sechs und neun Monate alten kaukasischen Babys Gesichter aus mehreren ethnischen Gruppen (u.a. kaukasisch, asiatisch und afrikanisch) präsentiert. Da man Babys nicht fragen kann, ob sie ein Gesicht wiedererkennen, filmten die Forscher das Blick­verhalten der Babys beim Betrachten der Gesichter. Aus dem Blick­verhalten schlossen sie dann, ob ein Gesicht wiedererkannt wurde oder nicht. Die Ergebnisse zeigen, dass der „Other-Race-Effekt“ bei drei Monate alten Babys noch nicht vorhanden ist, sich jedoch bis zum Alter von neun Monaten entwickelt. Mit neun Monaten zeigten die Babys nämlich einen klaren „Other-Race-Effekt“, indem sie nur gut zwischen kaukasischen, nicht jedoch zwischen anderen Gesichtern unterscheiden konnten. Interessanterweise konnten die drei Monate alten Babys zwischen allen Gesichtern gleich gut unterscheiden. Im Vergleich zu ihnen waren die neun Monate alten Babys nicht bei den kaukasischen Gesichtern besser, sondern bei allen anderen Gesichtern schlechter geworden. Dies mag daran liegen, dass bestimmte Gesichtszüge, die in der eigenen ethnischen Gruppe ein gutes Unterscheiden ermöglichen, in anderen ethnischen Gruppen undiagnostisch sind. Europäer sind zum Beispiel daran gewöhnt, blonde, rote und braune Haare zu unterscheiden, achten jedoch weniger auf Variationen dunkler Haarfarben, wie sie in asiatischen oder afrikanischen Kulturen vorherrschen.

Der „Other-Race-Effekt“ ist insbesondere im juristischen Kontext von großer Bedeutung, wenn Zeugen mögliche Täter anderer ethnischer Gruppen identifizieren sollen. Wie soll beispielsweise ein Afrikaner einen asiatischen Täter wiedererkennen, wenn für ihn alle Asiaten mehr oder minder gleich aussehen? Gerade in solchen Situationen (die in multikulturellen Gesellschaften immer häufiger werden) ist es entscheidend zu wissen, dass wir nicht alle Gesichter gleichermaßen gut erkennen und unterscheiden können. Zeugenaussagen, insbesondere beim Wiedererkennen von Gesichtern anderer ethnischer Gruppen, können auch falsch sein.

Kelley, D. J., Quinn, P. C., Slater, A. M., Lee, K., Liezhong, G., & Pascalis, O. (2007). The other-race effect develops during infancy: Evidence of perceptual narrowing. Psychological Science, 18(12), 1084-1089.

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