Fremdsprachen­kenntnisse machen das Lesen leichter.

- Christiane Schöl –

Das Erlernen einer Zweitsprache kann das Lesen in der eigenen Muttersprache beschleunigen.

- Julia war mit ihrem Hotelzimmer un­zufrieden, weil eine Menge Sand auf dem Boden lag.

- Julia war mit ihrem Hotelzimmer un­zufrieden, weil eine Menge Staub auf dem Boden lag.

Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass die beiden Sätze identisch sind mit Ausnahme der Wörter Sand und Staub. Welchen Satz aber konnten Sie wohl schneller lesen? Die Antwort einer aktuellen Forschungs­arbeit lautet: Das Lesen des ersten Satzes sollte Ihnen leicher gefallen sein – zumindest dann, wenn Sie neben der deutschen auch die englische Sprache beherrschen. Der Grund hierfür ist, dass das deutsche Wort Sand in seiner Schreibweise dem englischen Wort sand entspricht. Solche Wörter bezeichnet man in der Sprach­wissenschaft als „Kognate“. Das sind Wörter, die in verschiedenen Sprachen vorkommen, sich aber aus einem gemeinsamen Ursprungs­wort entwickelt haben und sich deshalb mehr oder weniger ähneln. Bei dem Wort Sand liegt eine hundertprozentige Übereinstimmung mit dem englischen Wort sand vor, bei den Wörtern Sturm und storm ist die Übereinstimmung schon geringer und bei Wasser und water ist sie noch weniger augenfällig.

In ihrer Studie untersuchten Eva Van Assche und ihre KollegInnen die Wirkung solcher Kognate auf das Lesen in der Muttersprache. In einem ersten Experiment baten sie holländische VersuchsteilnehmerInnen, die in der Schule Englisch als Fremdsprache erlernt hatten, ihnen präsentierte Wörter von Nicht-Wörtern, d.h. beliebig aneinandergereihte Buchstaben, zu unterscheiden. Die vorgegebenen Wörter waren zum einen holländische Wörter mit einer ähnlichen englischen Entsprechung – also Kognate, zum anderen holländische Kontrollwörter, die keinem englischen Wort ähnelten. Tatsächlich konnten die Befragten die vorgegebenen Kognate schneller von Nicht-Wörtern unterscheiden als die Kontrollwörter.

In einem zweiten Experiment wurde eine weitere Gruppe von holländischen Studierenden mit Englisch­kenntnissen gebeten, identische Sätze zu lesen, in denen entweder ein Kognat oder ein Kontrollwort vorkam. Dabei wurden die Blickbewegungen der Studierenden aufgezeichnet. Es zeigte sich, dass die Dauer vom ersten Blick auf ein Kognat bis zum Übergang zum nächsten Wort deutlich kürzer war als die entsprechende Blickdauer bei einem Kontrollwort. Außerdem war die Betrachtungs­dauer umso kürzer, je höher die Übereinstimmung zwischen holländischem und englischem Wort war. So verweilten die Teilnehmenden z.B. kürzer bei Wörtern wie Student oder Taxi (engl. student oder taxi) als bei Wörtern wie Nagel oder Kabel (engl. nail oder cable) . Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass unser Gehirn beim Lesen nicht spezifisch auf Wörter einer Sprache zurückgreift, sondern auf einen Wortspeicher aus allen uns bekannten Sprachen. Dabei werden Wörter schneller erkannt, die in mehreren Sprachen vorkommen.

Das Erlernen einer Zweitsprache ermöglicht uns also nicht nur das Lesen fremdsprachiger Literatur, sondern kann uns auch das allmorgendliche Zeitunglesen in unserer Muttersprache erleichtern.

 

Van Assche, E., Duyck, W., Hartsuiker, R. J., & Diependaele, K. (2009). Does bilingualism change native-language reading? Cognate effects in a sentence context.  Psychological Science, 20 (8), 923–927.

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