Gebunden ungebunden sein

- Birgit Gutzer –

Eine sichere Basis ist die Voraussetzung für das Erreichen eigener Ziele.

Im Prinzip kennt es jeder von uns aus seiner eigenen Kindheit: Aus Abhängigkeit kann Unabhängigkeit erwachsen. Wenn man wusste, dass die Mutter nur ein paar Meter entfernt war, hüpfte man als Kind eher unbedacht über einen Bach oder kletterte auf Bäumen herum, als wenn kein Elternteil in der Nähe war, der bei einem Unfall hätte helfen können.

Tatsächlich hat die Forschung gezeigt, dass Kinder, die in einem liebevollen Zuhause aufwachsen, im Schnitt unabhängiger und selbstbewusster sind, als Kinder, die viele Ängste und Unsicherheiten durch ihre Eltern erleben. Dies liegt vermutlich daran, dass erstere sich darauf verlassen können, von den Eltern auch in ungewissen Zeiten Unterstützung und Liebe zu erfahren, während letztere dies nicht können.

Doch gilt das Phänomen „Unabhängigkeit wächst aus Abhängigkeit“ auch für Paarbeziehungen zwischen Erwachsenen? Können die Er­kenntnisse, die für die Beziehung zwischen Eltern und Kind schon länger bekannt sind auch darauf übertragen werden? Dies versuchten Wissenschaft­ler um Brooke Feeney in zwei Studien herauszufinden.  Sie zeigten, dass Personen in Paarbeziehungen, die sich in unsicheren Zeiten auf die Unterstützung durch ihren Partner verlassen können, tatsächlich insgesamt unabhängiger von ihm sind. Ein Erwachsener, dessen Partner seine Abhängigkeit in schwierigen Zeiten akzeptierte, wies in diesen Studien im Schnitt mehr vom Partner unabhängige Aktivitäten und mehr Selbstgenügsamkeit auf und verfolgte seine eigenen Ziele mit einer größeren Entschlossenheit und Selbstsicherheit.

Das bedeutet, dass sichere und langfristige Partnerschaften zur Lebens­zufriedenheit beitragen können, weil es mit einer sicheren Basis leichter fällt, sich selbst zu verwirklichen. Denn die Abhängigkeit voneinander wird in engen Partnerschaften besonders in schweren Zeiten natürlicherweise benötigt. Deshalb fördern Partner, die sensibel und verständnisvoll auf das Verhalten des Anderen eingehen, dessen Unabhängigkeits­streben und Selbstgenügsamkeit und hemmen sie nicht. Dieses fürsorgliche Verhalten können die Partner jedoch nur zeigen, wenn sie keine Angst vor einer engen Beziehung haben und damit die Abhängigkeit vom Anderen zulassen.  Die beiden Studien der Sozialpsychologen wurden an insgesamt fast 300 Paaren aus Pennsylvania durchgeführt. Diese mussten im Labor eine Kombination aus Fragebogen­studien, Beobachtungen und Experimenten durchlaufen. Die erwarteten Zusammenhänge zwischen der Akzeptanz von Abhängigkeit aufseiten der einen Pärchenhälfte und positiven Erfahrungen von Unabhängigkeit der anderen Seite zeigten sich dabei nicht nur in den Selbstbeurteilungen des Paares zu einem Zeitpunkt, sondern auch im konkreten Verhalten und in den Messungen über einen Zeitraum von 6 Monaten.

Unterstützendes, sensibles und problembewusstes Verhalten in Beziehungen hat also langfristige Aus­wirkungen auf die Zielerreichung und die Selbstwirksamkeit des Partners. Allerdings sollte die Unterstützung eher emotionaler Natur sein, anstatt mit konkreten Ratschlägen aufzuwarten, da letztere negativ aufgefasst werden könnten, wenn der Partner dazu in der Lage ist, das Problem auf eigene Faust zu lösen.

Zudem sollte berücksichtigt werden, dass sich zu viel Abhängigkeit auch störend auswirken kann, weil eine zu starke Bindung an den Partner dessen unabhängige Entfaltung verhindern und er sich unverstanden fühlen kann. Auf der anderen Seite zeigen die Studien von Feeney, dass die Vermeidung von Nähe zum Partner eher fehlendes Vertrauen in die Beziehung auslöst und somit ebenfalls nicht förderlich für eine gut funktionierende Partnerschaft und für die Selbstverwirklichung des Partners ist.

Deshalb besteht der Königsweg darin, in jeder Situation zu dem Partner zu stehen, ihm allerdings genügend Freiheiten zu lassen, damit er seine Träume verwirklichen kann.

Feeney (2007). The Dependency Paradox in Close Relations­hips: Accepting Dependence Promotes Independence. Journal of Personality and Social Psychology, 92 (2), 268–285.

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