Hilfe! – wo weniger mehr sein könnte

- Anne Landhäußer –

In Notsituationen lähmen sich potentielle Helfer gegenseitig.

Es ist ein Paradoxon: Auf der einen Seite meiden wir im Dunkeln ängstlich einsame Gegenden und fühlen uns sicher in Menschenmengen, wo wir Tausende von helfenden Händen vermuten, sollte uns denn einmal das Unglück heimsuchen. Auf der anderen Seite aber erzählt die Welt andere Geschichten als unser Sicherheitsempfinden. Denn dass uns in einer misslichen Lage geholfen wird, ist innerhalb einer Menschenmenge weniger wahrscheinlich, als wenn nur ein einziger Zeuge anwesend ist.

Jeder hat von derartigen Situationen gehört oder sich bereits selbst in einer befunden: Ein Mann schlägt in aller Öffentlichkeit seine Frau – und jeder schaut instinktiv in eine andere Richtung. Deutsche Jugendliche provozieren einen Migranten, und eine Menschentraube bildet sich um die Szene, ohne dass ein Einziger eingreift. Wie es kommt, dass in solchen Situationen oft niemand hilft, untersuchten die Sozialpsychologen Latané und Darley. Sie entwickelten einen Fünf-Stufen-Prozess, den Zeugen eines Notfalls in der Regel durchschreiten müssen, bevor sie tatsächlich Hilfe leisten. Auf jeder einzelnen Stufe stellt sich die Anwesenheit anderer Menschen als Hindernisfaktor heraus.

1. Den Notfall bemerken
Ein Samstagnachmittag in der Innenstadt. Eltern bugsieren Kinderwägen und quängelnde Kleinkinder durch von hektisch hetzenden Passanten überfüllte Einkaufspassagen. Der Mensch weiß nicht, wohin mit Augen und Ohren – Reizüberflutung. Bestenfalls Scheuklappen aufgesetzt, denn die Zeit ist ohnehin knapp und man hat ja noch viel zu erledigen. Wenn da ein Unglück geschieht, fällt das entweder gar nicht auf oder die Aufmerksamkeit wird so schnell in eine andere Richtung gelenkt, dass der Einzelne überhaupt nicht registriert: Da braucht jemand Hilfe! Wer einen Notfall gar nicht bemerkt, der kann auch nicht helfend eingreifen.

2. Das Ereignis als Notfall interpretieren
Wir kennen diese Situation: Ein Obdachloser liegt am Boden, regungs­los. Unsicherheit greift um sich: Schläft er nur seinen Rausch aus oder ist es vielleicht doch etwas Ernsteres? Nun ist der Mensch ein soziales Wesen, und auf Unsicherheit erfolgt automatisch der soziale Vergleich. Hier hat nun das Phänomen der pluralistischen Ignoranz seinen Auftritt. Nehmen wir an, fünfzig Menschen sehen einen regungs­losen Obdachlosen am Boden liegen, fünfzig Menschen sind sich nicht sicher, was hier vor sich geht, fünfzig Menschen gucken sich also zunächst einmal um: Was tun die anderen 49? Da die anderen 49 Menschen offensichtlich keinen Bedarf sehen zu handeln – so der mutmaßliche Gedankengang – kann die Situation nicht so ernst sein. Der Gedanke, dass auch andere Leute eventuell unsicher sein könnten, wird übertrumpft von der willkommeneren Er­kenntnis: Wenn sich hier niemand erkennbare Sorgen macht, muss ich das auch nicht tun! Auch wenn also ein Notfall bemerkt wird, muss er erst noch als solcher interpretiert werden, damit es einen ersichtlichen Grund gibt, zur Tat zu schreiten.

3. Verantwortung übernehmen
Nehmen wir an, die Situation ist eindeutig. Der gestürzte Fahrradfahrer liegt in einer Blutlache – da gibt es nicht viel zu interpretieren, Hilfe muss her. Die Anwesenheit vieler Zeugen erzeugt das, was Psychologen Verantwortungs­diffusion nennen. Warum soll ich den Notarzt rufen, wenn die ganze Straße voller Menschen ist, die ein Handy besitzen und von denen womöglich schon jemand die Rettungs­sanitäter alarmiert hat? Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen durchaus gewillt sind, in Notfällen zu helfen, wenn sie glauben, dass niemand außer ihnen dafür in Frage käme. Wenn es andere Menschen gibt, die ebenso gut oder vielleicht besser helfen könnten, kann es gut sein, dass sich niemand verantwortlich fühlt, nun zu handeln. Einen Notfall als solchen zu registrieren, genügt also nicht. Wir müssen auch bereit sein, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen.

4. Entscheiden, wie man hilft
Da ist man plötzlich Zeuge eines Unfalls und einem wird schmerzlich bewusst, dass der Erste-Hilfe-Kurs gefühlte Jahrzehnte zurückliegt und man nicht mehr den blassesten Schimmer davon hat, wie die stabile Seitenlage aussehen sollte. Ist man in einer solchen Situation alleine am Unfallort, wird man irgendetwas tun und sich dabei die größte Mühe geben. Sind andere Menschen zugegen, hat man die Hoffnung, dass unter jenen sicherlich jemand die stabile Seitenlage besser beherrscht. So lässt sich die eigene Passivität rechtfertigen. Die Bereitschaft zum Helfen kommt oft erst dann, wenn Menschen die Sicherheit besitzen, dass sie genauso gut oder besser in der Lage sind zu helfen, als andere anwesende Personen.

5. Helfen
Auch wenn man weiß, wie man helfen muss, ist die Angst vor dem Eingreifen oft groß. Vielleicht macht man in der Aufregung ja doch etwas falsch und muss später die Konsequenzen dafür tragen. Die Anwesenheit Anderer erschwert die Entscheidung zu helfen, denn wie ein un­fähiger Idiot dastehen will keiner. Wir sind nun einmal nicht alle zum Helden geboren.

Wie also sollte man handeln, wenn man sich selbst als Opfer in einer solchen Situation wieder findet? Sofern man noch dazu in der Lage ist, besteht die beste Strategie darin, die Umstehenden direkt anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Es ist notwendig, ihnen zu signalisieren, dass es sich tatsächlich um einen Notfall handelt, gegebenenfalls mit dem Finger auf einzelne Personen zu zeigen und zu fragen: „Können Sie bitte die Polizei rufen?“

Für Zeugen einer Notfallsituation gilt: Am Sichersten ist es, zunächst einmal mit anderen Menschen zu kommunizieren. So werden Unsicherheiten und Ängste reduziert. Und zu zweit oder zu dritt hilft es sich eben doch besser als alleine.

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