Ist Moral Geschmackssache?

- Judith Braun –

Geschmack beeinflusst unsere moralischen Urteile.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sitzen an einem Sonntagabend gemütlich auf der Couch und schauen „Tatort“. In der Hand halten Sie eine heiße Tasse Tee. Leider ist der Tee nicht so gut wie sonst. Er schmeckt bitter, weil er zu lange gezogen hat. Gebannt verfolgen Sie das Geschehen auf dem Bildschirm. Der Fall entwickelt sich und Sie können den Mörder bei seinen Taten beobachten. Was Sie sehen widert Sie an und Sie sind empört über das unmoralische Verhalten des Täters. Doch hätten Sie genauso empfunden, wenn Sie statt des bitteren Tees ein Glas lieblichen Wein oder süßen Traubensaft getrunken hätten?

Dieser Frage widmeten sich Kendall Eskine, Natalie Kacinik und Jesse Prinz. Insbesondere wollte das Forschungs­team wissen, ob das Geschmacksempfinden direkt moralische Urteile beeinflusst, ein bitteres, abstoßendes Getränk also stärkere Empörung über moralische Verstöße hervorruft als ein süßes oder neutrales Getränk. Zur Unter­suchung dieser Frage teilte das Forschungs­team die Teilnehmenden in drei Gruppen ein, denen sie je eine von drei unter­schiedlichen Flüssigkeiten zu trinken gaben: süßen Beerensaft oder eine bittere Kräutermischung oder Wasser. Anschließend sollten alle Teilnehmenden beurteilen, wie moralisch verwerflich sechs verschiedene Vergehen sind. Die Vergehen wurden jeweils in einer kurzen Geschichte beschrieben; eine dieser Geschichten handelte beispielsweise von einem Kongress­abgeordneten, der öffentlich gegen Bestechung predigt, sich selbst aber bestechen lässt.
Personen, die Wasser oder den süßen Beerensaft getrunken hatten, urteilten ähnlich. Personen, die jedoch das bittere Getränk zu sich genommen hatten, beurteilten die geschilderten Verstöße als moralisch verwerflicher. Ekliger Geschmack führte demnach zu stärkerem moralischem Ekel als ein angenehmer Geschmack.

Die Er­kenntnis, dass das, was wir gerade schmecken, unser moralisches Empfinden beeinflusst, hat interessante Folgen. Es könnte zum Beispiel sein, dass Wasser statt bitterem Kaffee in Gerichtssälen zu (geschmacks-)neutraleren Urteilen führt. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das Geschmacksempfinden nur ein Faktor unter vielen ist, die unser moralisches Empfinden beeinflussen.

Eskine, K. J., Kacinik, N. A., & Prinz, J. J. (2011). A bad taste in the mouth: Gustatory disgust influences moral judgment. Psychological Science, 22, 295–299.

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