Mittelreich = mittelmäßig??

- Julia Rohringer –

An amerikanischen Elite­universitäten zweifeln Studierende mit niedrigem sozio­ökonomischem Status an ihrer akademischen Eignung – und können sich dadurch schlechter auf das Lernen konzentrieren.

Linda studiert an der Elite­universität Harvard. Im Gegensatz zu vielen ihrer KommilitonInnen kommt sie aus einfachen Verhältnissen. Als es beim Mittagessen mal wieder um den letzten Segelturn geht, fragt sich Linda, ob sie eigentlich gut genug ist, um an dieser herausragenden Uni zu studieren.

Wie kann es dazu kommen? Und was bedeutet das für Linda und ihr Studium? Die Forscherinnen Sarah Johnson, Jennifer Richeson und Eli Finkel nehmen an, dass die eigene soziale Identität – also das Wissen darum, einer bestimmten sozialen Gruppe anzugehören – hierbei entscheidend ist. Ist eine Person mit geringerem sozio­ökonomischem Status (deren Eltern z.B. aus einer niedrigeren Bildungs­schicht kommen oder ein geringes Einkommen haben) von Menschen mit höherem sozio­ökonomischem Status umgeben, so wird der Person ihr eigener niedrigerer Status stärker bewusst. Die Folge kann sein, dass die Person befürchtet, aufgrund ihres geringeren sozio­ökonomischen Status abgewertet oder stigmatisiert zu werden. Diese Bedenken können dazu führen, dass die Person ihre eigene akademische Eignung in Frage stellt.

Solche Gedanken, so die Forscherinnen, verringern die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Das bedeutet, dass man seine Aufmerksamkeit, Willenskraft und Handlungen schlechter kontrollieren kann. So kann man sich z.B. schlechter auf nachfolgende Aufgaben oder das Lernen für Prüfungen konzentrieren.

Die Ergebnisse einer Fragebogenstudie von 474 Studierenden stützen diese Überlegungen. Je niedriger das Haushalts­einkommen, desto größer war die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen akademischen Kompetenz und der wahrgenommenen Eignung für die Elite­universität. Diese Unsicherheit beeinträchtigte die Selbstkontrolle: So konnten Studierende mit niedrigerem sozio­ökonomischem Status z.B. Klausurvorbereitungen schlechter planen.

In einer weiteren Studie berichteten Studierende mit niedrigem wie hohem sozio­ökonomischem Status über ihren akademischen Erfolg und gaben an, warum der Erfolg für sie wichtig war. Danach bewerteten sie verschiedene Süßigkeiten. Tatsächlich wurde gemessen, wie viele Süßigkeiten sie aßen. Studierende mit niedrigerem Status aßen mehr Süßigkeiten, und zwar insbesondere dann, wenn sie im vorangegangenen Selbstbericht auf ihren geringeren Status Bezug genommen hatten. Die Forscherinnen begründen dies damit, dass durch die Beschäftigung mit dem eigenen niedrigeren Status Selbstkontrolle verbraucht wird und man anschließend seine Aufmerksamkeit und sein Handeln schlechter kontrollieren kann – und man z.B. mehr Süßigkeiten isst.

Zusammenfassend zeigen diese Untersuchungen, dass die Angst davor, aufgrund seiner sozialen Identität abgewertet zu werden, negative Aus­wirkungen haben kann. Die mentale Energie, die jemand aufwendet, um mit seinem geringeren sozio­ökonomischen Status umzugehen, fehlt schließlich an anderer Stelle. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wird geschwächt, was z.B. Prüfungs­vorbereitungen erschweren kann. Linda sollte sich daher stärker ihre Eigenschaften wie Intelligenz und Motivation bewusst machen, die sie mit anderen Studierenden ihrer Universität gemeinsam hat, als sich von den vermeintlichen Defiziten verunsichern zu lassen.

Johnson, S.E., Richeson, J.A. & Finkel, E.J. (2011). Socioeconomic Status, Stigma, and Self-Regulation at an Elite University. Journal of Personality and Social Psychology, 100(5), 838–852.

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