Sonderling oder Wegweiser*in?
Wollen wir uns einen Eindruck über die vorherrschenden Normen und Regeln einer Gruppe verschaffen, tun wir dies oft, indem wir Verhaltensweisen, Kleidungsstil, Sprache oder andere Merkmale der Gruppenmitglieder beobachten. Das, was die Mehrheit der Gruppe tatsächlich tut, wird als sogenannte deskriptive Gruppennorm bezeichnet. Davon abzugrenzen sind präskriptive Normen, welche sich auf das beziehen, was in und von der Gruppe als (un)angemessene Verhaltensweisen beurteilt wird. Doch wie ändert sich unsere Wahrnehmung dieser Normen, wenn sich ein abweichender Einzelfall in der Gruppe befindet, der sich in seinem Verhalten oder Aussehen von den anderen Gruppenmitgliedern unterscheidet?
Ein Forschungsteam der Stanford University widmete sich dieser Frage in einer Reihe von Experimenten. In einer ersten Studie wurde den Teilnehmenden ein kurzes Video gezeigt, in dem acht Personen zu unterschiedlichen Zeiten im Büro eintreffen. Je nach Bedingung sahen die Teilnehmenden dabei entweder, dass alle acht Personen in einem ähnlichen Zeitraum auf der Arbeit eintrafen (Bedingung 1) oder eine der acht Personen deutlich früher (Bedingung 2) oder deutlich später (Bedingung 3) als die anderen sieben Personen eintraf. Die mittlere Ankunftszeit war dabei in allen drei Bedingungen gleich. Im Anschluss sollten die Teilnehmenden die Ankunftszeit jeder einzelnen Person einschätzen, was die Forschenden als Maß für die deskriptive Gruppennorm verwendeten. Die Ergebnisse weisen auf eine Verzerrung der eingeschätzten Ankunftszeit in Richtung des abweichenden Einzelfalls hin: Die Ankunftszeit der sieben Normalfälle wurde in der Bedingung mit dem frühen Einzelfall früher als die tatsächliche Ankunftszeit eingeschätzt (bzw. später in der Bedingung mit dem späten Einzelfall). Es zeigte sich dagegen keine Verzerrung in der Bedingung ohne eine abweichende Person. Ebenfalls verschob sich die von den Teilnehmenden als angemessen und akzeptiert eingeschätzte Ankunftszeit, also die wahrgenommene präskriptive Gruppennorm, in Richtung der Ankunftszeit des jeweils abweichenden Einzelfalls. Hier sollten die Teilnehmenden die Zeitspanne einschätzen, in der Mitarbeitende es als akzeptabel empfänden, im Büro zu erscheinen. Das Forschungsteam zeigte in einer weiteren Studie, dass ein Einzelfall die Wahrnehmung der Gruppennorm zur Pünktlichkeit auch dann noch verzerrt, wenn die gleiche Person an einem Folgetag nahezu zeitgleich mit den anderen Personen eintrifft.
In einem anschließenden Experiment untersuchte das Forschungsteam statt Pünktlichkeit die Gruppennorm zum Kleidungsstil: So wurde sowohl der Kleidungsstil als auch die Akzeptanz gegenüber lässiger Kleidung von Gruppen mit einem leger gekleideten Einzelfall als lässiger respektive höher wahrgenommen als in einer Gruppe ohne Einzelfall.
Insgesamt legen diese Befunde nahe, dass wir Einzelfälle besonders stark bei der Bewertung von Gruppennormen gewichten, statt diese als nicht-repräsentativ auszuschließen. Offen bleibt, ob sich die gefundenen Effekte auch auf weitere Gruppennormen übertragen lassen und ob dabei die Stärke der Normen oder die Größe der Gruppe eine Rolle spielen. Diese und weitere Studien können somit maßgeblich dazu beitragen, unser Verständnis von sozialen Normen und der Wahrnehmung von Gruppen sowie Einzelfällen zu erweitern.
Dannals, J. E., & Miller, D. T. (2017). Social norm perception in groups with outliers. Journal of Experimental Psychology: General, 146, 1342-1359. doi: 10.1037/xge0000336
Redaktion und Asprechpartner*in¹: Sebastian Butz¹, Lucia Boileau
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