„Sprunghafte Moral“

- Matthias Elsner & Leonie Kuhn –

Die Entscheidung, unmoralisch handelnde Personen zu bestrafen oder zu beschützen, hängt vom Grad der Beziehung zu diesen Personen ab.

Im Gerichtsprozess um den Missbrauchsskandal von Münster 2020 wurde die Mutter des Hauptangeklagten der Beihilfe beschuldigt. Es erscheint unglaublich, dass sie von den Taten ihres Sohnes, dem mehrfacher schwerer sexueller Kindesmissbrauch vorgeworfen wird, gewusst und nichts dagegen unternommen haben soll. Dies ist jedoch bei weitem kein Einzelfall. Der Mensch tendiert einerseits dazu, unmoralisches Verhalten zu bestrafen, andererseits aber auch dazu, nahestehende Personen zu schützen. Beeinflusst also der Grad der Beziehung zu einer Person unsere Entscheidung, ob wir sie für moralische Verstöße bestrafen? Und wenn ja, gibt es eine Möglichkeit, diesem Einfluss entgegenzuwirken?

Mit diesen Fragen befasste sich das Forschungs­team um Aaron C. Weidman. In einer Reihe von Studien wurden die Teilnehmenden gebeten sich vorzustellen, dass sie unmoralische Handlungen einer engen Bezugsperson, beiläufigen Bekanntschaft oder ihnen fremden Person beobachtet hätten und danach von der Polizei zu dieser Tat befragt würden. Die Handlungen variierten hierbei im Schweregrad des moralischen Vergehens, vom Download illegaler Musik über Diebstahl bis zu sexueller Nötigung. Anschließend sollten die Teilnehmenden entscheiden, ob sie die Tat der Polizei schildern oder lügen würden.

Die Studien zeigten, dass die Beziehung zu einer Person beeinflusst, ob man deren unmoralische Handlungen bestraft oder nicht. Die Teilnehmenden waren allgemein eher bereit, eine nahestehende als eine fremde Person zu schützen und für sie zu lügen. Dieser Unterschied verstärkte sich, wenn es um schwerere Verstöße wie sexuelle Nötigung ging, verglichen mit geringeren moralischen Verstößen wie Diebstahl. Die Ergebnisse waren unabhängig von Geschlecht, politischer Orientierung und moralischen Überzeugungen der Teilnehmenden.

Der Grad der Beziehung zu einer Person beeinflusst demnach, ob wir sie für moralische Verstöße bestrafen oder sie beschützen. Das Forschungs­team untersuchte anschließend, ob eine Selbstdistanzierungs­haltung diesen Effekt verringert. Mit Hilfe dieser Technik wird eine psychologische Distanz zu sich selbst sowie zu der Beziehung mit einer nahestehenden Person erzeugt. Um die Aus­wirkungen einer Selbstdistanzierung zu untersuchen, sollten die Teilnehmenden bei ihrer Entscheidung eine von zwei Perspektiven einnehmen:  entweder ihre eigene Perspektive („Welche Fakten beziehe ich in die Entscheidung ein?“) oder die Perspektive einer dritten Person („Welche Fakten bezieht [Name des/der Teilnehmenden] in die Entscheidung ein?“). Tatsächlich verringerte sich bei einem schweren moralischen Verstoß einer nahestehenden Person die Tendenz, diese zu schützen, wenn die Teilnehmenden bei ihrer Entscheidung die Perspektive einer dritten Person einnahmen.

Es ist nachvollziehbar, dass wir Beziehungen zu nahestehenden Personen schützen möchten. Es gibt jedoch Situationen, in denen es schlimme Folgen haben kann, wenn moralische Verstöße von nahestehenden Personen verschwiegen werden. Zum Beispiel hätten beim Missbrauchsskandal von Münster möglicherweise viele schwere Straftaten verhindert werden können, wenn die Mutter ihren Sohn frühzeitig angezeigt hätte. In solchen Situationen kann Selbstdistanzierung dabei helfen, sich bei schweren moralischen Verstößen nahestehender Personen eher für deren Bestrafung zu entscheiden.

 

Weidman, A. C., Sowden, W. J., Berg, M. K., & Kross, E. (2020). Punish or protect? How close relations­hips shape responses to moral violations. Personality and Social Psychology Bulletin46(5), 693–708. https://doi.org/10.1177/0146167219873485

Redaktion und Ansprech­partner*in¹: Jennifer Eck¹, Selma Rudert

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