„Versetz dich mal in meine Position!“
Tim und Mark streiten heftig über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Beide können es nicht begreifen, wie der andere so blind sein kann und nicht erkennt, was das einzig „richtige“ Vorgehen ist. Wie können Tim und Mark ihren Streit beilegen und vielleicht doch noch zu einer gemeinsamen Position gelangen? Ein Forscherteam um Hannah M. Tuller hat eine mögliche Lösung: Sie vermuteten, dass das bewusste Einnehmen der Gegenposition zu einem erhöhten Verständnis für die gegensätzliche Meinung und sogar zu einer Veränderung der eigenen Haltung führen kann. Dabei genüge es jedoch nicht, über die Argumente der Gegenseite lediglich nachzudenken. Vielmehr sei es vor allem bedeutsam, dass die Streitenden sich in der Verantwortung sehen die Meinung der anderen Person tatsächlich nachzuvollziehen.
Um diese Annahme zu überprüfen, bildeten die Forschenden Partnerteams aus jeweils zwei Teilnehmenden ihres Experiments. Die StudienpartnerInnen konnten sich jeweils flüchtig kennenlernen. Daraufhin wurden die einzelnen Personen zu ihrer Position bezüglich einer konfliktbehafteten Situation befragt, in der eine Anwärterin auf eine Lehrstelle auf Grund ihres Übergewichtes abgelehnt wurde. Die Teilnehmenden gaben an, inwieweit sie mit dem Verhalten der Schule übereinstimmten und wie fest sie auf ihre Meinung beharrten. Allen Teilnehmenden wurde im Anschluss mitgeteilt dass ihre StudienpartnerInnen angeblich eine gegensätzliche Meinung vertraten. Daraufhin wurde die Hälfte der Teilnehmenden aufgefordert, den Standpunkt aus der Perspektive ihrer StudienpartnerInnen (also die Gegenmeinung) schriftlich zu begründen, wohingegen die andere Hälfte den eigenen Standpunkt schriftlich erläutern sollte.
Nach dieser Aufgabe wurden alle Teilnehmenden erneut nach ihrer Meinung bezüglich der geschilderten Situation befragt und inwieweit sie die vermeintliche Position ihrer StudienpartnerInnen nachvollziehen konnten.
Wie angenommen, führte das schriftliche Erläutern der Gegenposition zu einer Abmilderung der eigenen Meinung und zu einem erhöhten Verständnis für die Ansichten der anderen Person. Wie in einer weiteren Studie gezeigt werden konnte, geschah dies ebenfalls wenn die Studienteilnehmenden ursprünglich eine sehr feste Meinung zu dem Streitthema (legalisierte Abtreibung) hatten. Eine dritte Studie zeigte allerdings, dass dieser Effekt nur dann auftritt, wenn die PartnerInnen sich schon einmal begegnet sind. Diese Beobachtung weist darauf hin, dass eine Voraussetzung für den Erfolg dieser Methode darin liegt, sich gegenüber der anderen Person verantwortlich zu fühlen.
Für Mark und Tim und ihre Flüchtlingsdebatte heißt das konkret, dass ihr Streitgespräch nicht in bitteren Worten enden muss und sich zu einer friedlichen Diskussion entwickeln kann. Also, wenn Sie das nächste Mal einen Streit haben dann probieren Sie es doch selbst einmal aus! Verwerfen Sie nicht sofort die Argumente ihres Konfliktpartners, sondern versuchen Sie diese nachzuvollziehen und entdecken Sie die positiven Auswirkungen, die solch eine Haltung in einer Streitsituation mit sich bringen kann.
Tuller, H. M., Bryan, C. J., Heyman, G. D., Christenfeld, N. J. S. (2015). Seeing the other side: Perspective taking and the moderation of extremity. Journal of Experimental Social Psychology, 59, 28–23. doi: dx.doi.org/10.1016/j.jesp.2015.02.003
Redaktion und AnsprechpartnerIn*: Selma Rudert*, Anna Bruk
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