Vertrauen auf den ersten Blick

- Rainer Greifeneder –

Wie wir eine Person einschätzen, entscheidet sich innerhalb von Millisekunden.

Kann ich dieser Person vertrauen? Wie kompetent ist die Referentin, die gerade auf dem Podium spricht? Ist der Mann, der mir im Bus gegenüber sitzt, aggressiv? Täglich taxieren wir unsere Mitmenschen mit einer Vielzahl solcher Fragen. Und offensichtlich benötigen wir nur eine Zehntelsekunde, um die Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz oder Aggressivität einer Person einzuschätzen, wie Janine Willis und Alexander Todorov (Princeton University) in der Zeitschrift Psychological Science berichteten. Die (erste) Einschätzung einer anderen Person hängt also wohl tatsächlich vom sprichwörtlich „ersten Blick“ ab.

Interessanterweise fanden Willis und Todorov auch heraus, dass sich die Urteile über die Anderen nur wenig veränderten, wenn die andere Person nicht nur eine Zehntelsekunde, sondern eine halbe oder gar eine ganze Sekunde gezeigt wurde. Jedoch waren die Urteile weniger durch die Attraktivität der Gesichter beeinflusst. Das heißt, die Einschätzungen der Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz oder Aggressivität einer anderen Person wurden weniger durch die Attraktivität dieser Person verzerrt. Solche Verzerrungen führen normalerweise dazu, dass attraktive im Vergleich zu weniger attraktiven Personen als vertrauenswürdiger, kompetenter und weniger aggressiv eingeschätzt werden. Fazit: Wer sich von der Schönheit des Anderen nicht täuschen lassen will, sollte zweimal hinschauen.

Darüber hinaus lassen die Ergebnisse von Willis und Todorov den Schluss zu, dass man sich seines Urteils sicherer wird, wenn die andere Person nicht nur eine Zehntelsekunde, sondern eine halbe oder eine ganze Sekunde gezeigt wird. Wer zweimal hinschaut, ist sich also auch sicherer bezüglich des abgegebenen Urteils.

Die menschliche Fähigkeit, andere Menschen in Sekunden­bruchteilen zu beurteilen, verblüfft Forscherinnen und Forscher seit mehr als 200 Jahren. In den Anfängen dieser Forschungs­richtung wurde vorgeschlagen, dass man aus ganz bestimmten Gesichtszügen (z.B. die Nähe der Augenbrauen zueinander) auf die Persönlichkeit der Person (z.B. Verschlossenheit) schließen kann. Obwohl diese Ansicht noch heute durch Ratgeber und Management­handbücher geistert, ist sie wissenschaft­lich nicht haltbar. Tatsächlich gibt es keine einfachen Regeln, wie man verlässlich von den Gesichtszügen des Anderen auf dessen Persönlichkeit schließen kann. Daran ändern auch die Ergebnisse von Willis und Todorov nichts, denn die Autoren ermittelten die Güte der Urteile nur in Bezug auf andere Urteile, jedoch nicht in Bezug auf die tatsächlichen Eigenschaften der jeweiligen Person. Das heißt ein Urteil über eine Person wurde dann als gut bezeichnet, wenn es mit einem anderen Urteil über dieselbe Person übereinstimmte; ob die andere Person tatsächlich so war wie beurteilt, wurde nicht geprüft. Die Bedeutung der Ergebnisse von Willis und Todorov ist trotz dieser Einschränkung groß, denn Menschen treffen täglich eine Vielzahl solcher Blitz-Urteile. Das Besondere an der Arbeit von Willis und Todorov ist der Hinweis darauf, dass wir sogar so komplexe Eigenschaften wie Kompetenz oder Vertrauen in Sekunden­bruchteilen einschätzen können – ob wir allerdings mit dieser Einschätzung richtig liegen, bleibt ein Rätsel.

Willis, J., & Todorov, A. (2006). First Impressions: Making Up Your Mind After a 100-Ms Exposure to a Face. Psychological Science, 17(7), 592–598.

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