Weniger Lohn, dafür reicher an Moral?

- Dennis Uhrig –

Ein Defizit an materiellen Ressourcen kann zu strengeren moralischen Urteilen über das Verhalten anderer führen.

Steuerhinterziehung ist aktuell eines der meist diskutierten Themen. Die Meinungen darüber, wie ein solches Vergehen bestraft werden sollte, sind sehr unterschiedlich. Manche beurteilen einen Steuerbetrug als geringfügiges Vergehen oder sogar als gerechtfertigt, wohingegen andere diese Handlung als stark verwerflich einstufen und zu einer harten Bestrafung tendieren. Wie kommt es, dass Menschen, die in der gleichen Gesellschaft leben, solch unterschiedliche moralische Urteile fällen? 

Laut Marko Pitesa und Stefan Thau können die eigenen materiellen Ressourcen das Urteil über das Verhalten anderer beeinflussen. Sie vermuten, dass materieller Mangel Menschen dazu bringt, strengere moralische Urteile zu fällen. Als Ursache hierfür führen die Forschenden an, dass weniger begüterte Menschen viel verletzbarer durch potentiell schädliche Handlungen anderer sind. Beispielsweise trifft ein Diebstahl Menschen, die nur wenig besitzen, viel schwerer als wohlhabende Menschen. Laut den Forschenden tendieren schlechter gestellte Personen darum aus einem Selbstschutz­motiv dazu, härtere moralische Urteile zu fällen, da sie sich eine strengere Bestrafung der Täter/innen wünschen. 

Die Forschenden untersuchten, ob Personen mit geringerem Einkommen dazu tendieren, strengere moralische Urteile zu fällen als wohlhabendere Menschen. Zudem sollte festgestellt werden, ob sich die Unterschiede im moralischen Urteilen auch auf Handlungen beziehen, die gegen gültige Normen verstoßen, aber niemandem direkt Schaden zufügen. Hierzu ließen die Forschenden die Teilnehmenden glauben, vergleichsweise viel oder wenig zu verdienen, indem die Personen ihr Einkommen auf unterschiedlichen Skalen angeben mussten. Für eine Hälfte der Teilnehmenden begann die Skala bei „0 – 50 $“ und reichte bis „über 500 $“, sodass sie den Eindruck erhielten, im Vergleich finanz­iell gut dazustehen. Für die andere Hälfte begann die Skala bei „0 – 10 000 $“ und reichte bis „über 500 000 $“, so dass diese Personen sich finanz­iell schwächer vorkamen. Im Anschluss fällten die Teilnehmenden moralische Urteile über Verhaltensweisen, die teils direkten Schaden zufügten (z.B. Aggression) oder nur normabweichend aber harmlos waren (z.B. seltsames Verhalten in der Öffentlichkeit). Es zeigte sich, dass Teilnehmende mit gefühlt wenig Ressourcen bei der Beurteilung schädlichen Verhaltens zu härteren moralischen Urteilen tendierten als Teilnehmende mit gefühlt vielen Ressourcen. Bei der Beurteilung von normabweichendem, aber harmlosem Verhalten unterschieden sich die Urteile in den beiden Gruppen nicht. Die erhaltenen Ergebnisse unterstützen demnach die Theorie der Forschenden.

Im Fall der Steuerhinterziehung sollten demnach also weniger begüterte Personen strengere moralische Urteile fällen. Wahrscheinlich spielen hier aber auch noch zahlreiche andere Faktoren wie etwa Neid eine Rolle. Zudem stellt sich die Frage, ob ein Zugewinn an Moral immer positiv zu bewerten ist und nicht auch eine Schattenseite mit sich bringen kann. So wäre es beispielsweise möglich, dass Menschen zu regelrechten „Moralaposteln“ werden und allgemein eine übermäßige Strenge an den Tag legen.

Pitesa, M., & Thau, S. (2014). A Lack of Material Resources Causes Harsher Moral Judgments. Psychological Science, 25, 702–710. DOI: 10.1177/0956797613514092

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