Wenn Schönheit das Recht überstrahlt
Menschen nutzen im Alltag häufig Heuristiken. Das sind Strategien, die dabei helfen, schnell Urteile zu fällen. Eine der am häufigsten verwendeten Heuristiken ist die Attraktivitätsheuristik. Gemäß dem Prinzip „beauty is good“ werden attraktiven Menschen oft auch andere positive Eigenschaften wie Fleiß oder Intelligenz zugeschrieben, was ihnen zum Beispiel in der Schule oder im Berufsleben gewisse Vorteile verschafft. Aber haben attraktive Menschen auch vor Gericht Vorteile, wo Attraktivität eigentlich keine Rolle spielen sollte?
Diese Frage untersuchte Nicholas W. Waterbury in einer Studie. Er vermutete, dass auch Richter*innen gelegentlich auf die Attraktivitätsheuristik zurückgreifen, um in kurzer Zeit zu einem Urteil zu gelangen. Schließlich müssen sie sich täglich mit einer Vielzahl von Fällen auseinandersetzen und haben oft nur wenig Zeit, sich umfassend in neue Sachverhalte einzuarbeiten. Warterbury nahm daher an, dass Richter*innen eher zugunsten von Parteien entscheiden, die von attraktiveren Anwält*innen vertreten werden.
Um seine Annahme zu testen, nutzte er Daten aller von 2017 bis 2019 mündlich verhandelten Fälle vor den US-Berufungsgerichten, in denen die US-Regierung gegen eine andere Partei antrat. Die Attraktivität der Anwält*innen der gegnerischen Parteien wurde zum einen durch Online-Umfragen ermittelt, in denen die Befragten anhand von Videoaufnahmen oder Bildern der Anwält*innen deren physische Attraktivität bewerten sollten. Zum anderen wurde eine Software verwendet, die anhand von verschiedenen Attraktivitätsmerkmalen in einem Bild ein Attraktivitätsurteil berechnete. Jeder Fall vor den US-Berufungsgerichten wird von mindestens drei Richter*innen verhandelt. Insgesamt wurden somit 3.290 Urteile von Richter*innen in 1.067 Fällen mit 930 Anwält*innen der gegnerischen Parteien analysiert.
Die Datenanalyse zeigte über die verschiedenen Attraktivitätsbewertungen hinweg, dass Richter*innen tatsächlich eher zugunsten von Parteien entschieden, die von attraktiveren Anwält*innen vertreten wurden. Zudem zeigte sich, dass attraktivere Anwält*innen schließlich auch häufiger den Prozess gewannen. Schätzungsweise wären rund 20% der untersuchten Fälle nicht gewonnen worden, wenn die Anwält*innen weniger attraktiv gewesen wären. In allen Analysen wurde für Faktoren, auf denen sich attraktivere und weniger attraktive Anwält*innen unterscheiden könnten, wie zum Beispiel der Erfahrung mit US-Berufungsgerichten, statistisch kontrolliert.
Die Ergebnisse legen nahe, dass auch Richter*innen auf die Attraktivitätsheuristik zurückgreifen. Die Attraktivität von Anwält*innen spielt also vor Gericht durchaus eine Rolle. In manchen Fällen wird somit nicht ganz so objektiv entschieden, wie es eigentlich vor Gericht sein sollte. Zukünftige Studien sollten untersuchen, ob die Attraktivität von Anwält*innen auch Urteile anderer Gerichte als Berufungsgerichte beeinflusst. Sie sollten aber auch untersuchen, wie der Einfluss der Attraktivität von Anwält*innen vor Gericht eingedämmt werden könnte. Denn vor dem Gesetz sollten alle gleich sein.
Waterbury, N. W. (2024). Justice isn’t blind: Attorney attractiveness and success in US federal court. Journal of Law and Courts, 12(1), 1–22. https://doi.org/10.1017/jlc.2024.2
Redaktion und Ansprechpartner*in¹: Jennifer Eck¹, Tobias Ebert
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