Wenn sich Justitia irrt
Warum sollte jemand eine Straftat gestehen, die er nicht begangen hat? Das würde dem Selbstinteresse der geständigen Person und auch dem gesunden Menschenverstand vollkommen widersprechen. In der Kriminalarbeit gelten Geständnisse aus diesem Grund als überzeugende Beweismittel. Dennoch sind bei näherer Betrachtung durchaus nachvollziehbare Ursachen für falsche Geständnisse zu finden, wie etwa der enorme psychische Druck, unter dem ein Verdächtiger nach tagelangen Verhören und endlosen Unschuldsbeteuerungen steht.
Aus falschen Geständnissen können sich dann ernsthafte Probleme ergeben, wenn sie die Wahrnehmung anderer, entlastender Beweisstücke beeinflussen. So lassen sich, wie in einer amerikanischen Studie aus dem Jahre 2006 gezeigt wurde, selbst angesehene Fingerabdruckexperten von Geständnissen in ihrem Urteil verunsichern. Ein amerikanisches Forschungsteam untersuchte, wie sich Aussagen von Augenzeugen unter Einfluss eines Geständnisses verändern: Lassen sich Menschen, die eine Tat beobachtet haben und in einer Gegenüberstellung den Täter oder die Täterin identifiziert zu haben glauben, von dem Schuldgeständnis einer anderen Person beeinflussen?
In einem Experiment, das aus zwei Phasen bestand, verließ die Aufsichtsperson im ersten Teil den Raum. Währenddessen trat eine andere Person ein und entwendete einen Laptop. Als die Versuchsleitung wiederkam, erklärte sie der Versuchsperson, dass der Diebstahl inszeniert und Teil einer größeren Untersuchung über Kriminalermittlungen war. Die Versuchsleitung, in der Rolle des leitenden Ermittlers, bat die Teilnehmenden, ihr als ZeugInnen bei der Identifikation des Täters zu helfen. Dazu wurden ihnen Fotos von sechs Personen präsentiert. Die Person, die den Diebstahl begangen hatte, stand dabei nicht zur Auswahl. Zusätzlich sollten die Teilnehmenden angeben, wie sicher sie sich ihres Urteils waren.
Zwei Tage später wurde das Experiment fortgeführt. Hatte die Versuchsperson beim ersten Termin eine Person identifiziert, wurde ihr nun eine von vier Mitteilungen gemacht: Entweder hatte die Person gestanden, stritt ihre Schuld ab, eine andere Person hatte gestanden oder alle Verdächtigen stritten ihre Schuld ab. Danach konnten die Teilnehmenden ihre ursprüngliche Wahl beibehalten oder sich umentscheiden. Wieder sollten sie ihre subjektive Urteilssicherheit angeben.
Tatsächlich ließen sich die Augenzeugen von den Geständnissen beeinflussen. Wurde ihnen mitgeteilt, dass die Person gestanden hatte, stieg ihr Vertrauen in ihre (falsche) Entscheidung deutlich an. Besonders interessant ist, dass über 60 Prozent ihre Urteile änderten, wenn eine andere Person gestanden hatte. Bei anderer Mitteilung änderten maximal 28 Prozent ihre Meinung. Interessant zu untersuchen wäre es nun, ob ebenso viele ZeugInnen ihre Identifizierung bei Geständnis eines anderen Verdächtigen zurückziehen würden, wenn der wirkliche Täter unter den vorher präsentierten Personen gewesen wäre. Wäre ihre Wahl dann mit größerer Sicherheit verbunden?
Seit 1992 wurden in den USA durch DNA-Untersuchungen über 200 verurteilte Personen nachträglich entlastet. Laut den Forschern war in 25 % dieser Fälle ein falsches Geständnis Hauptgrund der Verurteilung. Trotz der offen gebliebenen Frage zeigt diese Studie, wie wichtig bei Ermittlungen eine unabhängige Beurteilung verschiedener, oft einander widersprechender Beweisstücke ist. Weder ein Augenzeuge noch ein überzeugendes Geständnis sollten unkritisch als Schuldbeweis gedeutet werden.
Hasel, L. E. & Kassin, S. M. (2009). On the Presumption of Evidentiary Independence. Psychological Science, 29(1), 122–126.
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