Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...

- Selma Rudert –

Beten verringert sowohl empfundenen Ärger als auch aggressives Verhalten.

Techniken mit Zorn und Frustration fertigzuwerden gibt es viele. Manch einer bevorzugt es, den guten alten Boxsack zu malträtieren, andere suchen lieber das Gespräch mit Freunden. Doch die meisten Zornigen würden vermutlich sehr erstaunt dreinsehen, wenn man sie auffordern würde stattdessen zu beten. Dies gilt insbesondere, wenn sie für die Person beten sollen, die ihren Ärger verursacht hat.

Dabei schrieb bereits Kant: „Das Gebet kann keinen objektiven Erfolg, sondern nur eine subjektive Rück­wirkung haben, nämlich Beruhigung und Aufrichtung des Gemüts“. Über zweihundert Jahre später gibt die wissenschaft­liche Forschung des Teams um Ryan H. Bremner, Sander L. Koole und Brad J. Bushman dem Philosophen recht. Sie provozierten ihre ProbandInnen zunächst, indem diese sehr negatives und herablassendes Feedback zu einem zuvor selbstgeschriebenen Aufsatz erhielten. Im Anschluss wurden die ProbandInnen aufgefordert, für ein angeblich schwerkrankes Mädchen zu beten. Verglichen mit einer Kontroll­gruppe, die lediglich über das kranke Mädchen nachdenken sollte, ließ  der empfundene Ärger bei den betenden ProbandInnen deutlich nach. In einem weiteren Experiment wurde ein Teil der ProbandInnen aufgefordert, für den/die FeedbackgeberIn selbst zu beten, also das Objekt ihres derzeitigen Ärgers. Anschließend spielten die ProbandInnen gegen den/die FeedbackgeberIn ein Spiel, bei dem sie diese/n bestrafen konnten. Versuchspersonen, die gebetet hatten, verhielten sich auch hier deutlich weniger feindselig.

Was aber ist der Grund für diesen beschwichtigenden Effekt des Gebets? Die Forscher­gruppe nimmt an, dass durch das Beten für eine andere Person sogenannte prosoziale Gedanken wie Mitleid, Fürsorge, Vergebung und Friedlichkeit sehr stark in den Vordergrund des eigenen Bewusstseins gerückt werden. Dies führt dazu, dass man sich beruhigt und sich auch in einer späteren Situation friedfertiger verhält. Im Sinne der Evolutions­theorie könnte Religion somit eine vermittelnde Funktion gehabt haben, die es durch den mit ihr verbundenen Moralkodex erst ermöglicht hat, dass Menschen in großen Gruppen einigermaßen friedlich zusammenleben und gemeinsam komplexe Kulturen schaffen konnten. Denn es erfindet und forscht sich doch sehr viel einfacher, wenn man nicht befürchten muss, dass der Nachbar einem im nächsten Moment den Schädel einschlägt.

Und die Moral von der Geschichte? Sollten wir alle nächsten Sonntagmorgen auf der Kirchenbank sitzen anstatt auszuschlafen? Nicht unbedingt. So hatte die miterfasste Religiosität der Versuchspersonen sowie die Häufigkeit von Kirchgang und Beten im Alltag keine Aus­wirkung auf die Ergebnisse. Doch ein gesellschaft­licher, humaner Wertekodex muss in der heutigen Zeit auch nicht mehr unbedingt an eine Religion geknüpft sein. Wir täten jedoch sicherlich alle gut daran, im Moment des Ärgers einmal tief durchzuatmen, uns diesen Wertekodex vor Augen zu rufen und uns daran zu erinnern: Wir sind alle nur Menschen – und wir alle machen Fehler. Das vor Augen, erscheint der Ärger meist gleich weniger schlimm.

Bremner, R. H., Koole, S. L. & Bushmann, B. J. (2011). „Pray for Those who Mistreat You“: Effects of Prayer on Anger and Aggression. Personality and Social Psychology Bulletin, 37(6), 830 – 837.

Kant, I. (1794). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg: Bey Friedrich Nicolovius.

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