Können Sie sich vorstellen, beruflich einen Weg einzuschlagen, der für Ihre Familie oder Ihren Freundeskreis unüblich ist? Viele Menschen können diese Frage mit „Ja“ beantworten: Laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sind hierzulande schätzungs-weise 48% der Studierenden in erster Generation an der Universität (Erstakademiker*innen). Dennoch hängt der Bildungserfolg in Deutschland noch immer von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund ab, was die folgende Frage aufwirft: Was kann die Chancengleichheit fördern? In der Vergangenheit konnte sozialpsychologische Forschung zeigen, dass Studierende bessere Noten schreiben, wenn sie sich mit der Wissenschaft identifizieren (z.B. „Die Professorin könnte denken, dass ich nicht der Richtige für die Wissenschaft bin. Aber ich weiß, dass ich es bin“). Ob insbesondere Erstakademiker*innen und Studierende mit familiärer Migrationsgeschichte von einer solchen Wissenschaftsidentität profitieren können, untersuchte eine kürzlich veröffentlichte Studie.
Ein Forschungsteam um Susie Chen befragte amerikanische Studierende, die sich in ihrem ersten Studienjahr auf eine wichtige Prüfung in Biologie vorbereiteten, nach ihrer Wissenschaftsidentität („Wie sehr identifizierst Du Dich mit Wissenschaft?“) und ihrem Zugehörigkeitsgefühl („Wie sehr fühlst Du Dich zur Universität zugehörig?“). In der ersten Semesterwoche beteiligte sich die eine Hälfte der Studierenden an einer Gruppenaufgabe, die das soziale Zugehörigkeitsgefühl steigern sollte. Hierbei wurde ihnen vermittelt, dass der Übergang von der Schule zur Universität nicht ganz einfach sei und dass ihre erlebten Schwierigkeiten normal seien. Die andere Hälfte der Studierenden unternahm stattdessen typische Kennenlernaktivitäten zum Studienbeginn. Am Ende des Semesters schrieben alle ihre Abschlussprüfung.
Die Auswertung zeigte, dass Studierende mit einer stärker ausgeprägten Wissenschafts-identität insgesamt bessere Noten erzielten als Studierende, die sich weniger stark mit Wissenschaft identifizierten. Dieser Befund war sogar noch stärker ausgeprägt bei Erstakademiker*innen und Studierenden mit einer familiären Migrationsgeschichte.
Die Forschenden überprüften in einem weiteren Schritt, ob dies an einem gesteigerten Zugehörigkeitsgefühl zur Universität liegen könnte. Als sich die Forschenden die Hälfte von Studierenden anschauten, die Kennenlernaktivitäten durchgeführt hatte, zeigte sich: Erstakademiker*innen und Studierende mit familiärer Migrationsgeschichte mit einer stärkeren Wissenschaftsidentität erzielten bessere Noten, weil sie ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl zur Universität aufwiesen. Wenn die Studierenden ihr Zugehörigkeits-gefühl zur Universität in Gruppenübungen steigern konnten, war eine hohe Identifikation mit Wissenschaft nicht mehr entscheidend, um bessere Noten zu schreiben.
Das Forschungsteam um Susie Chen konnte also zeigen, dass die Förderung einer Identifizierung mit Wissenschaft und insbesondere des Zugehörigkeitsgefühls dabei helfen kann, an der Universität bessere Noten zu schreiben. Diese Erkenntnis könnte die Chancengleichheit fördern, sodass Studierende unabhängig von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund ihr volles Potential entfalten können. Ein wichtiger Schritt ist, dass sie häufiger sagen können: „Wissenschaft? Genau mein Ding!“
Chen, S., Binning, K. R., Manke, K. J., Brady, S. T., McGreevy, E. M., Betancur, L., Limeri, L. B., & Kaufmann, N. (2020). Am I a science person? A strong science identity bolsters minority students’ sense of belonging and performance in college. Personality and Social Psychology Bulletin, 47(4), 593–606. https://doi.org/10.31234/osf.io/u4z7d
Redaktion und Ansprechpartner*in¹: Sebastian Butz¹, Lea Nahon
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