Der freie Wille – eine nützliche Illusion?

- Ulrike Rangel –

Der Glaube, dass wir uns frei entscheiden können, hilft uns dabei, ehrlich zu sein.

 

Haben wir einen freien Willen? Können wir unser Verhalten bewusst kontrollieren? Neuro­wissenschaft­liche Studien deuten darauf hin, dass unsere Handlungen nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern durch unbewusste Gehirnprozesse eingeleitet werden. Das Gehirn „entscheidet“ sich  für eine Handlung, bevor der bewusste Wille dazu existiert. Diese These hat heftige Kontroversen ausgelöst. Nicht thematisiert wurde bislang jedoch die Frage:  Hat es für uns Vorteile, an einen freien Willen zu glauben?

Die Forscher Kathleen Vohs und Jonathan Schooler behaupten, dass wir tatsächlich wohl daran täten, den Glauben an die menschliche Willensfreiheit nicht aufzugeben. Vohs und Schooler argumentieren, dass ein Verlust dieses Glaubens negative Folgen für unser Sozial­verhalten haben könnte. Denn wenn unsere Handlungen scheinbar durch Faktoren bestimmt werden, die wir nicht bewusst kontrollieren können, verlieren wir damit die Verantwortung für unser eigenes Verhalten. Die Annahme, dass Willensfreiheit nicht existiert, könnte so als Entschuldigung dafür dienen, sich unmoralisch zu verhalten, glauben die Forscher.

Dieser Hypothese gingen Vohs und Schooler in ihren Studien nach. Sie brachten einen Teil ihrer Studien­teilnehmer dazu, ihren Glauben an den freien Willen zu überdenken, etwa indem sie ihnen einen wissenschaft­lichen Text vorlegten, der Argumente gegen die Willensfreiheit enthielt. Anschließend gaben sie den Teilnehmern die Gelegenheit, sich unehrlich zu verhalten. Beispielsweise wurden die Probanden gebeten, am Computer komplizierte Kopfrechenaufgaben zu lösen. Ein von den Autoren absichtlich eingebauter „Programmierfehler“ erlaubte es den Teilnehmern, beim Rechnen zu schummeln und die Aufgabenlösungen nachzusehen. Personen, die zuvor davon überzeugt worden waren, dass das menschliche Verhalten determiniert ist, schummelten deutlich häufiger als Teilnehmer, die einen neutralen Text erhalten hatten.

Doch würde sich dieses Täuschungs­verhalten auch auf Situationen übertragen lassen, in denen echtes Geld im Spiel ist? Um dies zu überprüfen, ließen die Forscher ihren Probanden in einer zweiten Studie die Möglichkeit, sich eigenständig und anonym Geld zu nehmen, das sie als Belohnung für das richtige Lösen von Aufgaben erhalten sollten. Die Personen, denen zuvor Argumente gegen den freien Willen präsentiert worden waren, nahmen sich wiederum mehr Geld als alle anderen Teilnehmer­gruppen. Sie sprachen sich höhere Belohnungen zu, als ihnen eigentlich zustanden – und verhielten sich dadurch tatsächlich unmoralisch.

Der freie Wille mag also eine Illusion des Menschen sein, aber er scheint auch eine nützliche Illusion zu sein. Der Glaube daran, dass wir uns frei für Ehrlichkeit entscheiden  können, hilft uns offenbar dabei, uns auch ehrlich zu verhalten.

K.D.Vohs, J.W.Schooler (2008). The value of believing in free will: Encouraging a belief in determinism increases cheating. Psychological Science, 19, 49–54.

Dieser Artikel ist in Psychologie heute erschienen (April 2008). www.psychologie-heute.de

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