Erinnerungen an eine gerechtere Welt

- Carola Weidner –

Ein Lottogewinn wird niedriger erinnert, wenn man ein schlechtes Bild vom Gewinner hat.

Vielleicht kennen Sie ihn noch aus dem Religions­unterricht: den „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ – so nennen Bibel­wissenschaft­ler die im Alten Testament anzutreffende Annahme, dass es einem im Leben so ergeht, wie man es verdient hat. Obgleich man schon vor langer Zeit begann, diese Annahme in Zweifel zu ziehen, und fortan nicht mehr in jedem Pechvogel einen gerecht bestraften Übeltäter sah, scheint doch etwas davon tief in uns zu stecken: der Glaube, es gehe in dieser Welt im Großen und Ganzen gerecht zu. Das Verblüffende ist, dass wir offenbar über psychische Mechanismen verfügen, die uns helfen, den Glauben an eine gerechte Welt aufrechtzuerhalten, wenn er erschüttert zu werden droht – auch wenn uns das nicht unbedingt bewusst ist. Eine Gruppe von Forschern um den Sozialpsychologen Mitchell J. Callan hat vor kurzem herausgefunden, dass uns die Welt in unseren Erinnerungen manchmal gerechter erscheint, als sie eigentlich ist. Der Wunsch nach Gerechtigkeit hat also einen Einfluss darauf, wie wir Dinge erinnern.

In einem Experiment der Wissenschaft­ler mussten Versuchspersonen zunächst einige (fiktive) Artikel lesen. In einem der Artikel ging es um einen Mann namens Roger, der 18,42 Millionen Dollar im Lotto gewonnen hatte. Der genaue Inhalt des Artikels war nicht für alle Personen gleich. Die eine Hälfte der Personen las in dem Artikel nur Positives über Roger: Eine Kellnerin berichtete, dass Roger zu allen Menschen freundlich sei und viel Trinkgeld gebe, und sein Arbeitgeber beschrieb ihn als fleißigen Mitarbeiter mit angenehmem Charakter, der für eine angenehme Atmosphäre im Betrieb sorge. Die andere Hälfte der Versuchspersonen erhielt eine genau entgegengesetzte Beschreibung und somit ein sehr negatives Bild von Roger. Die Forscher nahmen an, dass es den Glauben dieser Personen an eine gerechte Welt bedrohen würde, wenn sie erführen, dass eine so unsympathische Person so viel Geld im Lotto gewinnt.

In einem später folgenden Erinnerungs­test sollten die Versuchspersonen angeben, wie hoch Rogers Lottogewinn gewesen war. Es zeigte sich, dass die Personen, die den Artikel über den un­freundlichen Roger gelesen hatten, den Gewinn im Durchschnitt unterschätzten und niedriger in Erinnerung hatten als Personen, die den Artikel über den sympathischen Roger gelesen hatten. Dies kann man so interpretieren, dass die Personen, deren Glauben an eine gerechte Welt durch den „unverdienten“ Lottogewinn erschüttert worden war, ein starkes Bedürfnis hatten, diesen Glauben wiederherzustellen und daher den Gewinn niedriger erinnerten. Diese Beobachtung ist ein weiteres Beispiel für die recht gut belegte Theorie, dass unsere Wünsche und Bedürfnisse oft einen stärkeren Einfluss auf unser Gedächtnis haben, als wir denken.

Die Ergebnisse der Studie sind möglicherweise auch von praktischer Relevanz. Sie könnten dort wichtig werden, wo sowohl der Glaube an eine gerechte Welt erschüttert wird als auch eine besonders akkurate Erinnerung notwendig ist: in Gerichtsprozessen. Die Erinnerungen von Augenzeugen könnten etwa dadurch verzerrt sein, dass dem Opfer eine Mitschuld zugeschrieben wird, da sein Schicksal so gerechter erscheint. Weitere Studien können uns hoffentlich bald mehr darüber sagen.

Callan, M. J., Kay, A. C., Davidenko N. & Ellard, J. H. (2009). The effects of justice motivation on memory for self- and other-relevant events. Journal of Experimental Social Psychology 45, 614–623.

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