Gefühle und Moral

- Rainer Greifeneder –

Ob wir uns über unmoralische Verhaltensweisen anderer empören und diese verurteilen, hängt auch von unseren Gefühlen ab.

Wir halten Manager, die sich Millionengehälter zusichern, für unmoralisch – ebenso wie Spitzensportlerinnen, die trotz ihrer Vorbildfunktion für Kinder und Jugendliche zum Doping greifen. Und auch Lügen und Betrügen ist aus unserer Sicht unmoralisch. Doch was genau bestimmt, ob wir ein Verhalten als moralisch richtig oder verwerflich beurteilen?

Zunächst einmal ist unser Begriff von Moral durch kulturelle Vorstellungen geprägt. Kannibalismus wird beispielsweise in unserer Gesellschaft als höchstverwerflich angesehen, während er in früheren Zeiten und anderen Gesellschaften sogar Teil von Riten und Gebräuchen war. Neben kulturell geteilten Vorstellungen beeinflussen aber auch unsere Gefühle, ob wir etwas für moralisch richtig oder für verwerflich halten. So nahm der Philosoph David Hume an, dass wir diejenigen Handlungen als moralisch richtig bewerten, die bei uns ein Gefühl von Zustimmung auslösen – und diejenigen Handlungen als moralisch verwerflich, die mit einem Gefühl der Ablehnung einhergehen. Die Sozialpsychologen Simone Schnall, Jonathan Haidt, Gerald Clore und Alexander Jordan unterzogen diese Annahme einer praktischen Prüfung: Sie führten mehrere Studien durch, in denen die Probanden angaben, für wie verwerflich sie es halten, wenn beispielsweise eine Frau ihren Cousin heiratet oder die hungernden Überlebenden eines Flugzeugabsturz über Kannibalismus nachdenken. Bevor die Teilnehmer diese Urteile abgaben, wurde bei einer Hälfte von ihnen ein Gefühl von Ekel hervorgerufen. Dies geschah zum Beispiel mit Hilfe eines abstoßenden Geruchs, der kurz vor dem Eintreffen der Studien­teilnehmer im Raum versprüht wurde. Die Autoren nahmen an, dass sich das Ekelgefühl negativ auf die moralischen Urteile auswirkt. Und tatsächlich zeigte sich, dass die „Ekel­gruppe“ die Verwandtschafts­heirat und die Kannibalismusgedanken als sehr viel unmoralischer wahrnahmen als die Gruppe, die sich nicht ekelte.

Die Studien von Schnall und Kollegen zeigen, dass Gefühle der Ablehnung unser moralisches Urteilen beeinflussen. Sie zeigen aber auch, dass dieser Einfluss nicht immer „richtig“ sein muss. Schließlich ist Kannibalismus in unserer Gesellschaft nicht mehr oder minder unmoralisch, nur weil es im Laborraum eklig riecht. Leiten uns unsere Gefühle also in die Irre? Manchmal schon, und zwar insbesondere dann, wenn die Gefühle der Ablehnung nicht durch die Handlung an sich, die wir beurteilen sollen (beispielsweise Selbst­bereicherung), ausgelöst werden, sondern durch andere Faktoren (wie Sympathie gegenüber der Person). In diesen Fällen ist Vorsicht geboten. Und dann ist es gut, sich des irreführenden Einflusses seiner Gefühle bewusst zu werden, bevor man den (moralischen) Zeigefinger hebt.

S. Schnall et al. (2008): Disgust as embodied moral judgment. Personality and Social Psychology Bulletin, 34(8), 1096-1109.

© Forschung erleben 2009, alle Rechte vorbehalten

Zurück