(Gefühls-)Reichtum und (Herzens-)Bildung

- Julia Rohringer –

Menschen niedriger sozialer Schichten schätzen die Gefühle anderer genauer ein als Menschen höherer sozialer Schichten.

Jeder Mensch gehört einer sozialen Schicht an, die durch soziale und materielle Faktoren wie finanz­iellen Wohlstand, Bildung und Prestige bestimmt wird. Die soziale Schicht, der man angehört, wirkt sich auf verschiedene sozio­ökonomische Faktoren aus. So haben Angehörige niedriger sozialer Schichten beispielsweise geringere Aufstiegs- und Bildungs­chancen. Aber kann sich die Schichtzugehörigkeit auch auf die Wahrnehmung von Gefühlen auswirken?

Diese Frage stellte sich das Forscherteam um Michael W. Kraus und untersuchte, ob die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht einen Einfluss auf die Empathie­fähigkeit von Menschen hat – also die Fähigkeit, sich in andere Menschen und deren Gefühle hineinzuversetzen. Die Forscher vermuteten, dass Menschen niedriger sozialer Schichten ein größeres emotionales Einfühlungs­vermögen aufweisen als Menschen höherer sozialer Schichten. Ihre Überlegungen begründen die Forscher folgendermaßen: Personen niedriger sozialer Schichten nehmen ihren sozialen Status als gering wahr und gehen davon aus, dass sie wenig Einfluss auf Lebens­ereignisse haben. Sie orientieren sich daher stärker an anderen Menschen in ihrem sozialen Umfeld. Folglich sollten sie sich eher in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle interpretieren können. Personen höherer sozialer Schichten nehmen sich hingegen als statushöher wahr, konzentrieren sich dadurch stärker auf sich selbst und schenken ihrem sozialen Umfeld weniger Aufmerksamkeit. Sie sollten deshalb die Gefühle anderer weniger gut einschätzen können.

In einer ersten Studie unterschieden sich die Teilnehmenden durch ihren Bildungs­grad. Sie sollten die Gefühle von Menschen anhand von Gesichtsausdrücken auf Bildern benennen. Tatsächlich konnten Personen mit niedrigerem Bildungs­grad die Emotionen genauer einschätzen als Personen mit höherem Bildungs­grad. In einer weiteren Studie wurde untersucht, ob sich dieses Ergebnis auch in der direkten sozialen Interaktion zeigt. Dazu nahmen je zwei Studierende an einem fiktiven Bewerbungs­gespräch teil. Zuvor schätzten sie ihren eigenen sozialen Status an der Universität ein. Dazu wurde ihnen gesagt, dass Menschen mit hohem sozialen Status typischerweise eine gute Ausbildung und einen gut bezahlten Job haben. Anschließend sollten die Teilnehmenden getrennt voneinander eine hypothetische Belohnung von 5000$ zwischen sich aufteilen und ihre Entscheidung begründen. Schließlich beurteilten sie ihre eigenen Gefühle und die vermuteten Gefühle ihres Interview­partners während des Bewerbungs­gesprächs. Auch in der direkten sozialen Interaktion konnten Personen, die einen niedrigeren sozialen Status an der Universität hatten, die Gefühle ihres Interaktions­partners präziser einschätzen als Personen mit einem höheren sozialen Status.

Diese Studien scheinen nahezulegen, dass Personen niedriger sozialer Schichten Gefühle anderer besser interpretieren können als Personen höherer sozialer Schichten. Auch wenn weitere Studien notwendig sind, bevor man endgültige Schlüsse ziehen kann, zeigen diese Ergebnisse eine interessante Perspektive auf, die etwa bei Stellenbesetzungen berücksichtigt werden sollte. Finanz­ieller Reichtum, Prestige und gute Bildung bedeuten noch lange nicht, dass eine Person auch wichtige soziale Fähigkeiten wie Empathie­fähigkeit mitbringt.

Kraus, M.W., Coté, S., & Keltner, D. (2010). Social class, contextualism, and empathic accuracy. Psychological Science, 21(11), 1716-1723.

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