Haben oder Sein?

- Steven Knebel –

Materialistisches Denken verringert das Interesse an sozialen Aktivitäten, wenn diese mit Aufwand verbunden sind.

In seinem wohl bekanntesten Werk „Haben oder Sein“ differenziert der Sozialphilosoph Erich Fromm zwei grundsätzlich verschiedene menschliche Denkweisen: Zum einen die des Habens, welche das Streben nach materiellen Gütern repräsentiert. Zum anderen jene des Seins, welche einzelne Fähigkeiten und die persönliche Entfaltung betont. Nach seiner Auffassung äußern sich beide „Existenzweisen“ in jedem Menschen, sind jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt und stehen zueinander in Widerspruch. Lässt sich diese Idee eines Widerspruchs zwischen Besitz- und Seins-Orientierung messen? Wirkt sich materialistisches Denken auf das Sozial­verhalten aus und wenn ja, wie?

Um diese Fragen zu klären, führte ein Forschungs­team in den USA eine Reihe von Experimenten durch. In einer dieser Studien wurden der Hälfte der Teilnehmenden verschiedene Luxusgüter (wie Juwelen oder teure Autos) gezeigt, um eine materialistische Denkweise anzuregen. Die andere Hälfte der Teilnehmenden erhielt lediglich „neutrale“ Bilder, sprich ohne Luxusgüter. Anschließend wurden alle Versuchspersonen zu verschiedenen Empfindungen und ihrem Interesse an sozialen Aktivitäten (wie dem Besuch einer Party) befragt. Es zeigte sich, dass eine materialistische im Gegensatz zu einer neutralen Denkweise zu einer erhöhten Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit und Un­zufriedenheit mit sich selbst, sowie zu einem deutlich geringeren Interesse an sozialen Aktivitäten führte.

Allerdings scheinen davon nicht alle sozialen Aktivitäten betroffen zu sein: In einer weiteren Studie unterteilte die Forschungs­gruppe die sozialen Aktivitäten in aufwändige (zum Beispiel sich für einen wohltätigen Zweck einsetzen) und weniger aufwändige (zum Beispiel mit Bekannten einen Film anschauen) Tätigkeiten. Hier wurde deutlich, dass die materialistisch denkende Gruppe im Gegensatz zur Kontroll­gruppe ein geringeres Interesse an anstrengenden sozialen Aktivitäten aufwies. An einfachen und wenig aufwändigen sozialen Interaktionen zeigte sie jedoch ein stärkeres Interesse. Die Befunde deuten darauf hin, dass jede Person ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit besitzt. Dieses versuchen materialistisch denkende im Gegensatz zu neutral denkenden Personen jedoch auf eine Art und Weise zufriedenzustellen, die keine kooperative Gesinnung oder ein Interesse am Allgemeinwohl verlangt.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse auf, dass eine materialistische Denkweise Einfluss auf unser und das allgemeine Wohlbefinden zu haben vermag. Eine solche Denkweise mit ihren negativen Konsequenzen kann dabei durch Merkmale der Situation erzeugt werden. Dies lässt vermuten, dass bei uns, gerade in der heutigen Zeit, in der wir häufig (zum Beispiel in der Werbung) mit Luxusgütern konfrontiert werden, oftmals eine materialistische Orientierung im Alltag aktiviert ist und negative Effekte auf unsere Empfindungen und unser soziales Engagement hat. Im Kern scheint dies mit der Auffassung Fromms in Einklang zu stehen: Eine zunehmende Ausrichtung des gesellschaft­lichen Lebens an Konsum und Besitz geht auf Kosten des Stellenwertes sozialer Bindungen. Etwas weniger Konsum in das Zentrum der Gesellschaft zu stellen, wäre demnach zuträglich für das Wohlbefinden aller.

Bauer, M. A., Wilkie, J. E. B., Kim, J. K., & Bodenhausen, G. V. (2012). Cuing consumerism: situational materialism undermines personal and social well-being. Psychological Science, 23(5), 517–523.

Fromm, E. (1983). Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalten GmbH.

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