„Ich bin schwul!“ – Am besten offen und ehrlich?

- Ann-Kathrin Schölzel –

Die Zusammenarbeit mit einer offen bekennenden homosexuellen Person führt beim Gegenüber zu einer besseren Leistung, als wenn die sexuelle Orientierung unklar ist.

Stellen Sie sich einmal folgendes Szenario vor: Zu Beginn Ihres ersten Semesters an der Kunsthochschule werden Sie im Rahmen eines Seminars aufgefordert, zusammen mit einem Kommilitonen ein Referat vorzubereiten. Ihren Referats­partner haben Sie bisher noch nicht kennengelernt. Er stellt sich Ihnen mit den Worten vor: „Ich bin Marc, studiere Kunst und bin schwul.“ Stellen Sie sich nun die gleiche Situation vor, nur dass jetzt die Worte des Kommilitonen lauten: „Ich bin Marc und studiere Kunst.“ Was glauben Sie: In welcher dieser zwei Situationen würden Sie ein besseres Referat abliefern?

Aus Sicht der Forschung verschlechtert Ungewissheit in sozialen Interaktionen die Leistung, da Personen Vorhersagen über das Verhalten und die Einstellungen ihrer Interaktions­partner machen möchten und dies von der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Die Enthüllung der sexuellen Orientierung hingegen reduziert diese Ungewissheit, sodass die soziale Interaktion leichter wird und mehr Ressourcen für die eigentliche Aufgabe übrigbleiben.

Um diese Annahme zu überprüfen, führten die ForscherInnen Benjamin A. Everly, Margaret J. Shih und Geoffrey C. Ho von der Universität Kalifornien ein Experiment mit 27 männlichen Studenten durch. Die Teilnehmer wurden angewiesen, mit einem anderen Teilnehmer eine Aufgabe zu bearbeiten. Zuvor erhielt jeder Teilnehmer Informationen über seinen Arbeits­partner. In der Bedingung „Ungewissheit“ wurde den Teilnehmern mitgeteilt, ihr Gegenüber sei in einer festen Beziehung. Ob es sich dabei um eine Beziehung mit einer Frau oder einem Mann handelte, wurde nicht erwähnt. In der Bedingung „Gewissheit“ wurde den Teilnehmern gesagt, ihr Gegenüber habe einen festen Freund namens „Josh“. Im weiteren Verlauf der Studie trafen die Teilnehmer auf ihren angeblichen Arbeits­partner, der in Wahrheit ein männlicher Verbündeter des Versuchsleiters war. Dessen äußere Erscheinung sowie sein Verhalten ließen eine mögliche homosexuelle Orientierung vermuten. Nach einer kurzen Begrüßung begannen die Teilnehmer, einen Mathematiktest zu bearbeiten.

Die Teilnehmer erzielten eine bessere Leistung, wenn sie wussten, dass ihr Partner homosexuell war. Bestand hingegen Unsicherheit bezüglich der sexuellen Orientierung, war die Leistung wesentlich schlechter. In anderen Studien zeigte sich außerdem, dass sich nicht nur die Leistung Anderer, sondern auch die Leistung homosexueller Personen selbst verbessert, wenn sie ihre sexuelle Orientierung offenlegen.

Was bedeuten diese Befunde nun für jeden Einzelnen? Ist es immer sinnvoll, seine sexuelle Orientierung zu verkünden, damit sowohl die Leistung der Anderen als auch die eigene Leistung gesteigert wird? Diese Schlussfolgerung zu ziehen, wäre zu voreilig, da die Bekanntgabe der sexuellen Orientierung in intoleranten Umgebungen leider auch negative Folgen haben kann. Außerdem ist eine verbesserte Leistung nicht zwangs­läufig und für jeden Grund genug, seine sexuelle Orientierung offen zu legen. Ob also offen und ehrlich immer am besten ist, muss letztendlich jeder für sich selbst entscheiden.

Everly, B. A., Shih, M. J., & Ho, G. C. (2012). Don’t ask, don’t tell? Does disclosure of gay identity affect partner performance?. Journal of Experimental Social Psychology, 48, 407–410.

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