„Ich hab’s geschafft – warum du nicht?“

- Nora Lienenbecker & Leo Wenger –

Personen, die an einer Herausforderung scheitern, werden durch andere schlechter bewertet, die bei derselben Herausforderung erfolgreich waren.

Seit einiger Zeit hat Wolfgang mit Ehe­problemen zu kämpfen. Er ist deshalb häufig stark gestresst und kann sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Ihm würde es helfen, wenn einer seiner zwei Kollegen vorübergehend einen Teil seiner Arbeit übernehmen würde. Der eine Kollege hat bereits selbst Erfahrung mit Ehe­problemen gemacht und sie erfolgreich überwunden. Der andere Kollege ist unverheiratet und hatte noch nie vergleichbare Probleme. An wen soll sich Wolfgang wenden, um Hilfe zu bekommen?

Bisherige Forschung konnte zeigen, dass Personen, die ein bestimmtes Problem selbst erlebt haben, mehr Mitgefühl gegenüber anderen zeigen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden. Doch was ist, wenn es der aktuell betroffenen Person nicht gelingt, die problematische Situation zu überwinden? Ein amerikanisches Forschungs­team um Rachel Ruttan vermutete, dass Personen, die eine bestimmte Herausforderung bereits bewältigt haben, andere für ihr Versagen in einer vergleichbaren Situation schlechter bewerten als Personen, die noch nicht mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert waren. Diese Annahme beruht darauf, dass es Menschen schwerfällt, sich in ehemalige emotionale Zustände zurückzuversetzen („Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie schwierig das damals für mich war“). Häufig erinnern wir uns nur noch an den schlussendlichen Erfolg („Ich habe es geschafft“). Eine andere Person, die an der gleichen Situation scheitert, wird folglich abgewertet und negativ beurteilt („Warum schafft sie es nicht?“).

Das Forschungs­team untersuchte diese Annahmen in mehreren Studien. Hierzu wurden die Teilnehmenden in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe nahm an einem ermüdenden Gedächtnistest teil, bei dem sie verschiedene Zahlenfolgen erinnern musste. Eine Woche später bewerteten die Teilnehmenden eine andere Person, die angeblich daran gescheitert war, den ermüdenden Gedächtnistest zu beenden. Eine weitere Gruppe bewertete die scheiternde Person, ohne selbst an dem Test teilgenommen zu haben. Die Ergebnisse bestätigen die Vermutung des Forschungs­teams: Die Bewertungen scheiternder Personen durch Teilnehmende, die den Test selbst absolviert hatten, fiel deutlich schlechter aus, im Vergleich zu Teilnehmenden, die selbst nicht an dem Test teilgenommen hatten.

Wolfgang wäre dementsprechend besser beraten, sich an den Kollegen zu wenden, der bisher von Ehe­problemen verschont geblieben ist. Im Falle eines Strauchelns kann hier erwartet werden, dass Wolfgang zumindest weniger als bei dem nun wieder glücklich verheirateten Kollegen abgewertet wird. Trotz der Ergebnisse bleibt offen, ob sich die Bewertung auch verschlechtern würde, wenn die beiden Personen miteinander vertraut, vielleicht sogar eng befreundet wären. Wie vergleichbar müssen die Notsituationen sein, damit sich der beschriebene Effekt zeigt? Wächst das Verständnis für Versagen mit der Schwere der Aufgabe? Wird die Bewertung schlechter, je länger das überwundene Ereignis zurückliegt? Und auch ob Verständnis allein ausreicht, um gestärkt aus der Trennung hervorzugehen, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten.

Ruttan, R. L., McDonnell, M. H., & Nordgren, L. F. (2015). Having “been there” doesn’t mean I care: When prior experience reduces compassion for emotional distress. Journal of Personality and Social Psychology, 108, 610–622. doi:http://dx.doi.org/10.1037/pspi0000012

Redaktion und Ansprech­partnerIn*: Selma Rudert*, Sebastian Butz

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