Menschen­kenntnis auf den ersten Blick

- Stephan Bedenk –

Unter bestimmten Umständen können Gesichtsmerkmale Hinweise auf aggressives Verhalten liefern.

Wie erstrebenswert wäre es wohl, die Verhaltensabsichten anderer in deren Gesichtern ablesen zu können? Mit einem Blick könnten wir dann beispielsweise sehen, welche Personen uns gegenüber wohl gesonnen sind und von wem wir uns eher fernhalten sollten. Für viele ist das sicherlich eine faszinierende Vorstellung. Der Wunsch, Wesenszüge blitzschnell anhand der Gesichtszüge eines Menschen abzulesen, hat deshalb nicht nur Alltagsweisheiten hervorgebracht („Der hat schon die Nase eines Verbrechers“), sondern immer wieder auch Wissenschaft­ler inspiriert.

So auch eine aktuelle Arbeit der drei ForscherInnen der Brock University, Justin Carré, Cheryl McCormick und Catherine Mondloch, die den Zusammenhang zwischen Gesichtsmerkmalen und tatsächlicher und eingeschätzter Tendenz zu Aggressivität bei Männern untersucht. Dazu wurde von 37 männlichen Versuchspersonen je eine Portraitaufnahme gemacht und anschließend die abgebildeten Gesichter auf ein anatomisches Muster hin analysiert: Für jedes Gesicht wurde das Verhältnis von Gesichtsbreite (Abstand zwischen linkem und rechtem Ohr) zu Gesichtshöhe (Abstand zwischen Oberlippe und Augenbraue) berechnet. Basierend auf evolutions­biologischen Vorüberlegungen vermuteten die ForscherInnen, dass das Verhältnis von Gesichtsbreite zu Gesichtshöhe bei aggressiven Versuchspersonen größer sein könnte. Um dies zu testen, ließen Carré und Kolleginnen die Teilnehmer ein Computer­spiel spielen und protokollierten, wie aggressiv sich die Versuchspersonen gegenüber Mitspielern verhielten. Tatsächlich zeigten Personen mit größerem Verhältnis von Gesichtsbreite zu Gesichtshöhe aggressiveres Verhalten im Computer­spiel.

Doch damit nicht genug: Carré und Kolleginnen präsentierten die Portraitbilder anschließend 31 weiteren Personen, die nichts von den Ergebnissen der vorhergehenden Untersuchung wussten. Ihre Aufgabe war es, einzig aufgrund der Portraitbilder die Aggressivität der abgebildeten Personen einschätzen. Die Analyse dieser zweiten Untersuchung ergab, dass Personen mit einem stärker ausgeprägten Verhältnis von Gesichtsbreite zu Gesichtshöhe nicht nur aggressiver handelten, sondern von den Beurteilern auch als aggressiver eingeschätzt wurden. Gesichtszüge können also gewisse Hinweise für aggressives Verhalten liefern. Und: Menschen scheint der Zusammenhang instinktiv auch bewusst zu sein.

Ob wir diese Er­kenntnisse auch anwenden können, wenn wir in Zukunft das Verhalten unserer Mitmenschen „voraussehen“ wollen, scheint jedoch höchst fraglich. Denn die verwendeten statistischen Zusammenhangsmaße liefern keine Aussage darüber, ob wir Verhalten einzelner Personen tatsächlich mithilfe eines einzigen Indikators zuverlässig vorhersagen können. Wie Menschen sich verhalten, wird nicht nur durch anatomische Merkmale bestimmt, sondern zum Beispiel auch massiv durch persönlichkeits­psychologische Faktoren (wie etwa Ängstlichkeit) und situative Einflüsse. Die berichteten Ergebnisse sind also mit Vorsicht zu interpretieren. Somit wird die Fähigkeit, aus Gesichtern zu lesen, wohl weiterhin eher Spekulation als solide Wissenschaft bleiben.

Carré, J. M., & Mccormick, C. M. (2008). In your face: Facial metrics predict aggressive behaviour in the laboratory and in varsity and professional hockey players. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 275, 2651-2656.

Carré, J. M., McCormick, C. M., & Mondloch, C. J. (2009). Facial structure is a reliable cue of aggressive behavior. Psychological Science, 20, 1194-1198.

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