Wissenschaft­liche Bedeutung von Otto Selz

Otto Selz sah in der Psychologie die Brücke zwischen dem Positivismus der philosophisch geschulten Natur­wissenschaft­ler und der Metaphysik (im Sinne von Fichte, Hegel) der geistes­wissenschaft­lich orientierten Philosophen. In seiner Dissertation über „Die psychologische Er­kenntnistheorie und das Transzendenz­problem“ (bei Lipp in München) versuchte er durch die Auseinandersetzung mit den Thesen von Locke, Berkeley und Hume eine eigene Er­kenntnistheorie zu erarbeiten und kam zu dem Schluss, dass die Psychologie als biologische Wissenschaft natur­wissenschaft­liche Methoden anwenden müsse. Die Thesen des Positivismus wurden von ihm somit prinzipiell anerkannt. Er zählte die Psychologie als Wissenschaft des Lebens (gegenüber denen des Geistes und der Natur) zu den „Gesetz­wissenschaften“, auch wenn eine Anwendung mathematischer Formeln nicht in dem Maße möglich sei wie in den „exakten Wissenschaften“.

Selz‘ wichtigste wissenschaft­liche Beiträge betrafen Fragen der Denkpsychologie. Nach seiner Promotion wurde er in Bonn Schüler und Mitarbeiter von Külpe, dem Begründer der Würzburger Schule (siehe Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie), deren Kernpunkt die Ablehnung der bis dahin vorherrschenden, letztlich auf Aristoteles zurückgehenden Assoziations­theorie (insbesondere die Erklärung willentlicher Denkakte durch die assoziative Verknüpfung von Vorstellungen nach dem Kontiguitätsprinzip) war. Selz begann in Bonn mit den empirischen Untersuchungen zu seinem Werk „Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs“, das er als Habilitations­schrift vorlegte. Er arbeitete an der Entwicklung von Methoden zur Analyse von Denkvorgängen (im Wesentlichen die Introspektion unter experimentellen Bedingungen) entscheidend mit, indem er durch Prozeduren zur systematischen Variation von Aufgabenstellung, Abfragemodus und Protokollierung methodenabhängige „Verfälschungen“ der Daten zu kontrollieren suchte.

Man würde die wissenschaft­liche Bedeutung des Werkes von Otto Selz aber verkennen, wenn man ihn bloß als einen Vertreter der Würzburger Schule klassifizierte. Er hat die Thesen der Würzburger Schule weiterentwickelt, indem er die Ziel- bzw. Aufgabenbezogenheit des Menschen (= Motivation) und seine verschiedenartigen kognitiven Leistungen – von einfachen Orientierungs­anleitungen bis zum produktiven Denken – zu einer geschlossenen Theorie zu integrieren suchte. Selz fasste Denken als Kontinuum von reproduktiven und produktiven Operationen, und zwar als „Probehandeln“ auf. Produktives Denken entsteht, wenn die von ihm so genannte reproduktive Wissensaktualisierung nicht zum Ziel führt. Denken ist dabei nicht gleichzusetzen mit dem Besitz von Wissen, sondern mit der Möglichkeit, Wissen einschließlich Mittelfindung anwenden zu können. Dabei interessierte ihn primär die Methodik, die das Individuum während eines Denkvorgangs anwendet. Seebohm (1970; S.54 ff.) fasste die für die Gegenwart wichtigsten Ergebnisse der Selzschen Deckpsychologie in sieben Thesen zusammen:

  • Selz setzte anstelle der assoziativen Verknüpfung von Gedankeninhalten die Verknüpfung durch Streben nach Komplexergänzung
  • Anstelle der Betrachtung von Denkinhalten diejenige von Denkverläufen: Welche Operationen werden durchgeführt, wenn Bewusstseinsinhalte denkend miteinander verbunden werden?
  • Steuernde Kraft des Denkprozesses ist die schematische Antizipation im Zielbewusstsein:
  • Das im Zielbewusstsein schematisch erfasste Denkziel setzt einen Denkprozess in Gang, der streng determiniert ist: jeweils das Vorhergehende als spezifischer Reiz bedingt das Nachfolgende als spezifische Reaktion.
  • Die Determination des Verlaufes der Denkoperation durch eine Kette von spezifisch miteinander verbundenen Teilreaktionen ist Voraussetzung des reproduktiven und produktiven Denkens.
  • Die Person ist die Vereinigung aller zur Verfügung stehenden spezifischen Verhaltensweisen.
  • Die Person, als die synthetisch aufgebaute Ganzheit der spezifisch aufgebauten Verhaltensweisen, ist für jede einzelne Verhaltensweise der Ausgangspunkt: Verhalten ist ganzheitlich gesteuert.


Selz formulierte in seiner Denktheorie bereits Konzepte, die in modernen Ansätzen – z.B. der Schema-Theorie (hierzu Herrmann, 1982), Theorien zur Künstlichen Intelligenz oder Problemlösungs­theorien – von zentraler Bedeutung sind. Seine Beschreibung von Denkprozessen, lange bevor es Computer gab, hat eine große Ähnlichkeit mit den später durch Computer­simulationen festgestellten Prinzipien. Seine aus der Denktheorie abgeleiteten Methoden und Vorschläge zur pädagogischen „Hebung des Intelligenzniveaus“ (1935) werden – ohne dass auf ihn Bezug genommen wurde – in letzter Zeit im Rahmen von „Lernhierarchie­modellen“ oder dem „Testing the limit“ – Ansatz wieder aufgegriffen.

Selz formulierte seine wesentlichsten Vorstellungen zum Denken als einem strengen Gesetzen folgenden Prozess von aufeinander bezogenen Operationen vor 1920. In späteren Jahren, vor allem nach 1930, befasste er sich vorwiegend mit der inneren Struktur dieser Operationen, d. h. mit den „phänomenologischen Aufbauprinzipien“, durch die die Möglichkeiten für das dynamische Denkgeschehen festgelegt werden. Er versuchte außerdem mit seinen Arbeiten zur Phänomenologie des Raumes eine Analyse der Wahrnehmungs­bedingungen, wie sie ähnlich in der Gestaltungs­theorie beschrieben sind. Für die theoretische Ausgestaltung seiner Grundkonzeption, dass im Wesentlichen „Steigerungs­phänomene“ und „definierte Qualitäten“ (z. B. Raum, Zeit, Ton, Farbe) wahrgenommen werden, zog er zunehmend mathematische Überlegungen heran und versuchte andererseits, geometrische Axiome wahrnehmungs­psychologisch zu deuten.

Nach der 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung erfolgten vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand war Otto Selz von wissenschaft­lichen Kontakten weitgehend abgeschnitten und an der Verbreitung seiner Forschungs­tätigkeit gehindert. Ab 1934 konnte er nur noch sechs relativ kurze Zeitschriftenartikel publizieren (davon einer posthum von Révész herausgegeben). Die Unermüdlichkeit, mit der er trotz politischer Bedrohung und der eingeschränkten Möglichkeiten an seiner Theorie weiterarbeitete, zeigen die unveröffentlichten Manuskripte über Fragestellungen Phänomenologischer Aufbauprinzipien (ca. 4500 z. T. handschriftliche Seiten), die sich im Nachlass fanden. Die politischen Umstände führten auch dazu, dass sein Werk heute – auch unter deutschen Forschern – kaum bekannt ist. Besonders seine nach der Entlassung geschriebenen Arbeiten zur Phänomenologie des Raumes sind nahezu vergessen, obwohl sie von Révész als „in ihrer Bedeutung weit über die Grenzen der Psychologie hinausgehend“ charakterisiert wurden.