Alina Ivanenko

Alina Ivanenko kommt aus Tschernihiw im Norden der Ukraine, nahe der weißrussischen und russischen Grenze. Sie hat zwei Doktortitel in Geschichts­wissenschaften und befasste sich zunächst mit der Geschichte lokaler Bildungs­einrichtungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ihre zweite Dissertation handelt von der Staats- und Rechts­geschichte der Ukraine. Sie veröffentlichte mehr als 60 wissenschaft­liche oder methodologische Artikel. Sie ist verheiratet und lebt seit einem Jahr mit ihrer sechsjährigen Tochter in Deutschland.

Wann haben Sie beschlossen, die Ukraine zu verlassen?

Meine Tochter und ich leben nun schon seit einem Jahr, seit Anfang 2022 in Deutschland. Mein Mann ist noch in der Ukraine, wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich die Ukraine verlassen habe. Das war sehr schwer für ihn und unsere Tochter. Vor dem 24. Februar 2022 hatten wir ein schönes Leben, aber an diesem Tag hat sich alles geändert. Anfangs wohnten wir zehn Tage lang bei den Eltern meines Mannes und suchten Schutz im Keller, während die russische Armee uns Tag und Nacht, manchmal stündlich, bombardierte. Nach acht Tagen wurde uns klar, dass wir unsere Tochter in Sicherheit bringen mussten. Sie hatte schreckliche Angst und war verängstigt. Wir fassten also den schwierigen Entschluss, das Land zu verlassen.

Ist Ihr Mann noch in der Ukraine?

Ja, er durfte das Land nicht verlassen, es war also eine harte Entscheidung für uns, auszureisen. Zuerst wollte ich in den westlichen Teil der Ukraine gehen und dort warten. Aber mein Mann meinte, wir sollten in ein anderes Land gehen, wo wir sicherer wären.

Wie kam es, dass Sie nach Mannheim gekommen sind?

Ich habe eine Freundin aus meiner Studien­zeit, die in Deutschland, in der Nähe von Essen, lebt. Meine Tochter und ich wohnten zunächst für vier Monate bei ihr, nachdem wir unser Land verlassen hatten. In Deutschland angekommen, habe ich versucht, nach beruflichen Möglichkeiten für mich zu suchen, denn ich wollte nicht untätig sein, abhängig von sozialer und finanz­ieller Unterstützung. Im letzten Frühjahr boten viele Universitäten in Deutschland Stipendien für ukrainische Forschende an, und ich hatte das Glück, eines von der Universität Mannheim zu erhalten. So habe ich seit Juli 2022 mein neues Leben hier in Mannheim begonnen.

Wie war Ihr Start in Mannheim?

Als alleinerziehende Mutter war es nicht einfach. Meine Tochter und ich wurden anfangs beide krank, ich musste zu Hause bleiben, meine Pläne ändern und alles selbst in die Hand nehmen. Aber ich musste auch arbeiten. Zurzeit habe ich einen Lehr­auftrag in Mannheim, wo ich einen Kurs über die Staats- und Rechts­geschichte der Ukraine unterrichte. Allerdings muss ich mein Englisch verbessern und auch Deutsch lernen, weil ich es für mein tägliches Leben hier brauche. Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich in Deutschland bleiben werde, aber solange ich hier bin, muss ich die Sprache verstehen und mich verständigen können.

Wie kommen Sie mit dem Deutschlernen voran?

Deutsch ist für mich sehr anspruchsvoll, nicht aber für meine Tochter. Sie ist seit September 2022 im Kindergarten und spricht schon fließend Deutsch. Wenn ich meine Hausaufgaben auf Deutsch mache, muss ich sie oft um Hilfe bitten, und sie übersetzt für mich.

Sie haben zwei Dissertationen geschrieben. Ihre erste handelte von der Geschichte der lokalen Bildungs­einrichtungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jetzt beschäftigen Sie sich mit der Besatzungs­politik in der Ukraine in den frühen 1940er Jahren. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Meine Forschungen liegen im Bereich der Zivilgeschichte, nicht der Kriegsgeschichte. Ich beschäftige mich insbesondere mit dem Staats- und Justiz­system im „Reichskommissariat Ukraine“ während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg zwischen 1941 und 1944. Meine Dissertation handelt vor allem vom Leben der Menschen unter dieser Besatzung. In meiner Forschung habe ich straf- und zivilrechtliche Gerichts­verfahren untersucht. Diese spielten eine wichtige Rolle im gesellschaft­lichen Leben und bei der Lösung dringender Rechts­fragen.

Es gab also ein offizielles Justiz­system unter der deutschen Besatzung? Welche Verfahren wurden dort behandelt?

Jede Gesellschaft braucht rechtliche Regularien, deshalb haben die deutschen Verwalter Gerichte, Kanzleien und Notariate geschaffen, um die Einhaltung der Gesetze in der Bevölkerung zu regeln. Dort arbeiteten Einheimische, wobei es den deutschen Behörden in erster Linie darum ging, die örtlichen Richter mit rein routinemäßigen und funktional einfachen Aufgaben zu betrauen, wie z. B. der Feststellung und Registrierung von Personenstandsänderungen oder dem Recht auf Ausstellung von Ausweispapieren. Jeder Mensch hatte das Recht, sich an eine Anwalts­organisation zu wenden, Rechts­beistand zu erhalten und sich über seine Rechte zu informieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Gerichte hatten Fragen des sozialen Lebens zu klären, z. B. Unterhaltszahlungen oder Erbschafts­angelegenheiten. Die ehemaligen Richter berichteten, dass sie hauptsächlich Fälle von Einwohnern verhandelten, die kleinere Straftaten wie Diebstahl, Schlägereien, persönliche Beleidigungen, Urkunden­fälschung oder heimliches Schlachten von Vieh begangen hatten.

Wie gehen Sie dabei methodisch vor?

Bisher habe ich mich bei meinen Recherchen ausschließlich auf ukrainische Quellen gestützt, die ich in unseren Archiven und Bibliotheken gefunden habe. Jetzt bin ich in Deutschland und kann deutsche Quellen studieren. Ich hoffe, dass mein Deutsch eines Tages gut genug sein wird, um sie selbst zu lesen und zu übersetzen.

Haben Sie sich bei Ihren Forschungen intensiv mit Krieg und Unterdrückung beschäftigt?

Das stimmt. Ich habe eine 400-seitige Dissertation über Krieg und Menschen, die unter einer Besatzung leben, geschrieben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal selbst erleben würde. Nachdem ich nun ein Jahr lang nicht in meinem Land war und gesehen habe, wie die Menschen unter der Besatzung leben, ist es sehr schwierig.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir lediglich ein friedliches Leben. Ich glaube, das würde uns allen genügen.

Text: Moritz Klenk