Ganna

Ganna ist Associate Professor an der Universität Charkiw im Norden der Ukraine. Seit Oktober 2022 arbeitet sie am Lehr­stuhl Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim und lernt aktuell fleißig Deutsch. Sie möchte anonym bleiben und ihren Nachnamen nicht veröffentlichen.

Wann haben Sie sich entschlossen, die Ukraine zu verlassen und warum sind Sie nach Mannheim gekommen?

Im April 2022 beschloss ich, Charkiw zu verlassen. Zunächst zog ich nach Israel und blieb dort bis Oktober, bevor ich nach Deutschland weiterzog. Ich hatte gehört, dass es in Deutschland Stipendien gibt und dass viele europäische Universitäten ukrainische Forschende unterstützen. Also beschloss ich, mein Forschungs­projekt an die Universität Mannheim zu schicken. Ich war sehr froh, als ich eine Antwort erhielt und der Lehr­stuhl für Germanistische Linguistik mich einlud. Ich bin der Leiterin des Lehr­stuhls, Professor Angelika Storrer, sehr dankbar. Sie hat freundlicherweise zugestimmt, mich einzuladen, und jetzt habe ich einen Vertrag für ein Jahr bis Oktober.

Wie hat Ihr Start in Deutschland ausgesehen?

Ich bin viel herumgereist und habe Bremen und Frankfurt am Main besucht. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mein Start hier einfach war, aber das war er nicht. Ich hatte mit vielen emotionalen Ängsten und psychologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mein Leben hat sich, wie das vieler anderer Menschen auch, völlig verändert. Meine Aufgabe besteht nun darin, mich an diese Veränderungen zu gewöhnen und mich anzupassen. Ich bin jedoch meinen Kolleginnen und Kollegen vom Fach­bereich Germanistische Linguistik, insbesondere Dr. Maya Linthe, und auch Katharina Bolle vom Research Support Team sehr dankbar. Sie helfen mir bei allen Belangen. Es gibt viele Unterschiede im Vergleich zur Ukraine. Das Lustige ist, dass viele der deutschen Klischees wie Pünktlichkeit und gute Organisation zutreffen, zumindest nach meiner Erfahrung. Aber das ist natürlich nicht alles: Deutschland ist auch sehr vielfältig und ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, bevor ich hierher kam. Es gibt hier so viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Das hat einen großen Einfluss auf das Land und die Kultur. Und jetzt gibt es eine neue Welle von Einwanderern, die einen weiteren Einfluss haben wird. Das ist eine sehr interessante Entwicklung.

In Ihrer Forschung analysieren Sie politische Diskurse aus einer linguistischen Perspektive. Können Sie mir mehr darüber erzählen?

In meiner Forschung konzentriere ich mich auf politische Slogans, insbesondere auf Protestslogans, die während oppositioneller Bewegungen und politischer Umwälzungen in der Ukraine, Belarus und Russland verbreitet wurden. Es gibt viele Forschende, die sich ebenfalls mit diesen Themen auseinandersetzen, ich möchte jedoch untersuchen, wie nationale Identitäten durch Sprache ausgedrückt werden. Immer wenn es zu Protest- und Widerstandsbewegungen kommt, wollen die Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie zu einer bestimmten Nation gehören.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich versuche es zu erklären, denn viele Beispiele sind für Menschen, die kein Russisch oder Ukrainisch sprechen, vielleicht schwer zu verstehen. Es gibt einen Slogan, der lautet: „Bitte sagen Sie 'Palyanytsya'". Dabei handelt es sich um ein spezielles ukrainisches Brot. Wer kein Ukrainisch spricht, kann dieses Wort nicht richtig aussprechen. Im Russischen ist der Laut „ts“ oft hart, aber im Ukrainischen ist er weich.

Die Identifikation erfolgt also anhand der Aussprache?

Genau. Das ist sehr interessant, denn viele Menschen in der Ukraine können Russisch sprechen, aber die meisten Russen können kein Ukrainisch. Der Slogan wurde nach der Invasion als Identifikation für die Ukrainer geschaffen. Ein anderes, anschaulicheres Beispiel wäre: „Die Ukraine ist kein kleines Russland.“ Dieser Slogan bedeutet, dass die Ukraine kein Teil Russlands ist, da historisch gesehen die Sowjetunion verschiedene Länder, verschiedene Republiken umfasste. Heute sind diese Länder unabhängig, aber viele Menschen glauben, dass die Ukraine und Weißrussland weiterhin zu Russland gehören und in Wirtschaft und Politik auf Russland angewiesen sind. Slogans wie diese zeigen, dass die Menschen in der Ukraine wirklich unabhängig sein wollen. Sie haben ihre eigene Kultur, ihre eigene Sprache, und sie können als unabhängige Länder existieren.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Im Rahmen meiner Recherchen habe ich einen Fragebogen erstellt, um zu ermitteln, was die Menschen in den verschiedenen Ländern denken. Eine der Fragen war, ob die Ukrainer als Russen angesehen werden. Auf diese Frage erhielt ich viele bejahende Antworten. Ich habe Menschen in Israel, Deutschland und anderen europäischen Ländern befragt, und eine beträchtliche Anzahl von ihnen antwortete, dass sie Belarussen und Ukrainer im Allgemeinen als Russen betrachten würden.

Glauben Sie, dass diese Wahrnehmung noch aus der Zeit der Sowjetunion stammt?

Auf jeden Fall. In den Köpfen vieler Menschen sind wir alle gleich, weil wir slawische Völker sind. Und es stimmt, rein optisch kann man nur schwer unterscheiden, ob jemand aus der Ukraine, aus Belarus oder Russland kommt. Deshalb verwenden sie auch den Slogan „Sag 'Palyanytsya'".

Wird sich diese Wahrnehmung Ihrer Meinung nach ändern?

Ich hoffe es. Aber noch wichtiger ist, dass wir diesen Krieg in Anbetracht der aktuellen Ereignisse so schnell wie möglich beenden müssen. Wir alle wollen, dass dieser Konflikt beigelegt wird. Dieser Krieg hat viele Menschenleben gekostet. So viele Menschen sind gestorben. Es ist furchtbar. Es ist unglaublich, dass wir uns im Jahr 2023 befinden und immer noch mit denselben Problemen konfrontiert sind. Wir haben aus der Geschichte und unseren Erfahrungen nicht viel gelernt. Wir machen die gleichen Fehler immer und immer wieder.

Glauben Sie, dass sich das eines Tages ändern wird?

Ich hoffe es. Aber in Anbetracht der aktuellen Ereignisse ist das schwer zu glauben. Trotzdem wünsche ich mir nur Frieden. Als Ausdruck des Respekts gegenüber dem Land, das mich aufgenommen hat, habe ich begonnen, Deutsch zu lernen. Das ist es, was mich momentan glücklich macht und mich von all dem ablenkt.

Text: Moritz Klenk