Der linke Bildteil ist in Farbe und man sieht Frauen, die an einem Tisch sitzen und an ihren Laptops schreiben. Der mittlere Teil des Bildes ist eine Überblendung nach schwarz weiß. Auf der rechten Bildseite (in schwarz weiß) sitzen Frauen an einem Tisch und lesen und schreiben an Schreibmaschinen.

Ein Raum für uns allein?

Kollektives Schreiben und feministische Strategien in der Wikipedia

Dieses Projekt, das zwischen September 2022 und Mai 2023 durchgeführt wurde, war eine Kooperation für Gender­gerechtigkeit und Bildungs­innovation zwischen Maja Linthe (Universität Mannheim) und den Künstlerinnen und Wikipedia-Aktivistinnen Daniela Brugger und Chris Regn (Who writes his_tory?). Unterstützt wurden wir durch die studentischen Hilfskräfte Emily Poncia und Charlotte Galilea.

Ein Raum für uns allein

Der Raum im Titel unseres Projekts bezieht sich zum einen auf Virginia Woolfs Essay „A Room of One’s Own“ (Ein Zimmer für sich allein) und damit auf ihre Forderung, der Frau Geld und ein Zimmer für sich allein zu geben, damit sie schreiben kann. Das Geld haben wir in unserem Fall vom Wissen bewegen!-Programm erhalten, auch der Zoomraum und das ExpLAB wurden uns von der Universität Mannheim zur Verfügung gestellt. Zum anderen bezieht sich der Raum im Projekttitel auf die sogenannten Namensräume der Wikipedia. Die Wikipedia enthält nicht nur den Artikelnamensraum, den fast alle kennen, sondern auch die dazugehörige Diskussionseite, in der Verbesserungen zum Artikel diskutiert werden können, die Versionsgeschichte, in der jede gespeicherte Änderung der Artikelseite unter dem entsprechenden Datum abgelegt ist und den Benutzer:innennamensraum. Und in allen diesen Namensräumen gibt es zu wenig Frauen, womit wir bei der Gender­gerechtigkeit in unserem Projekttitel wären.

Während sich das Schreiben in Virginia Woolfs Essay auf Literatur und auf traditionelle gedruckte Texte bezog, wurden in der hybriden Schreibwerkstatt von Who writes his_tory und in den Seminaren von Maja Linthe sogenannte Hypertexte erstellt und analysiert. Die traditionelle En­zyklopädie hat sich gewandelt und ist zu einer Online-En­zyklopädie geworden, an deren Erstellung und Bearbeitung sich jede und jeder beteiligen kann und soll, die die nötigen digitalen Kompetenzen (und auch Medien) hat.

Gender-Gap

Auf der Konferenz der Gleichstellungs- und Frauen­minister:innen der Länder (GFMK) 2022 wurden die mangelnden digitalen Kompetenzen und die mangelnde Teilhabe von Frauen an den digitalen Räumen des WWW angemahnt, wobei die Wikipedia als Beispiel herangezogen wurde. In ihrer eigenen Stellungnahme nannte die Wikimedia Deutschland (Verein und nationales Chapter der Wikimedia Foundation)  auf Studien gestützt u.a. folgende Faktoren für die mangelnde Teilhabe von Frauen: viele Konflikte, Technik und Usability, mangelnde Unterstützung und Durchlässigkeit, negativer Ruf der Website, Anonymität, komplexe Infrastrukturen von Code, Regeln und Prinzipien – auf Seiten der Wikipedia – und Zeitmangel, andere Medienpräferenzen und Angst vor Löschung auf der Editor:innenseite. Wikimedia selbst möchte dieser Entwicklung vor allem durch die Förderung von Frauen­initiativen in der Wikipedia und durch Unterstützung im Konfliktfall und beim Neueinstieg entgegentreten. Natürlich gab und gibt es den vielzitierten Gender Gap in der Wikipedia auch sonst auf der Welt und die Wikipedia bildet dies ab. Dieses Projekt hat sich aber der feministischen Perspektive verpflichtet, die besagt, dass auch hier und heute immer wieder historisch begründete Dominanz- und Macht­verhältnisse reproduziert werden, die Gender­gerechtigkeit verhindern. Deshalb ist es insbesondere in einer En­zyklopädie wichtig, z.B. historische Frauenbilder zu kontextualisieren und neu zu erstellende moderne Frauenbiografien kritisch zu prüfen.

Mit der Einrichtung der Schreibwerkstatt wurde Student:innen – und in der Germanistik studieren mehrheitlich Frauen – und anderen Interessierten ein Raum geboten, um gemeinsam in der Wikipedia zu editieren und vorzugsweise Artikelseiten über Frauen zu erstellen. Parallel zur Schreibwerkstatt wurden zwei sprach­wissenschaft­liche Hauptseminare zur Wikipedia als Hypertext und zur Interaktion und gemeinschaft­lichen Textproduktion in der Wikipedia angeboten. Für diese Seminare wurden auch Projektseiten in der Wikipedia erstellt, so dass für die Wikipedia-Community ersichtlich war, in welchem Rahmen die Artikelseiten erstellt wurden.  Die Studierenden der Seminare konnten die Schreibwerkstatt besuchen und haben im HWS 2022 Artikelseiten zu Wissenschaft­ler:innen, im FSS 2023 eine Artikelseite ihrer Wahl erstellt. Insgesamt wurden 28 Artikelseiten erstellt und 25 davon veröffentlicht.

  • Kooperationen mit der Black Academy und WUMAN

    Am Ende des Projekttitels steht ein Fragezeichen „Ein Raum für uns allein?“, denn wir fordern mehr Raum für Frauen, mehr Schreibraum und mehr Artikelnamensräume, aber nicht mehr nur für Frauen allein. In unserem Projekt haben wir sowohl mit der Black Academy Mannheim, einer Initiative, die sich der weltweiten Vernetzung und Sichtbarmachung der Expertise Schwarzer Menschen widmet, als auch mit WUMAN, dem feministischen Wissenschafts­netzwerk der Universität Mannheim, kooperiert. Who writes his_tory? führte insgesamt vier hybride Einführungen für die Wikipedia auf Englisch durch, auf denen die internationalen Teilnehmenden lernten, sich eine Benutzer:innenseite und eine Entwurfseite anzulegen. Neben den Student:innen und Mitarbeiter:innen der Universität Mannheim nahmen mehrere Mitglieder der Black Academy aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern teil, eine französische Doktorandin und die ukrainische Gast­wissenschaft­lerin, die an unserem Lehr­stuhl forschte. Während die Anleitung in der Schreibwerkstatt nun auf Englisch und für die deutsche Wikipedia erfolgte, bearbeiteten die Teilnehmenden Artikelseiten in der englischen, der französischen, der ukrainischen und der russischen Wikipedia und probierten auf weiteren Sitzungen das Übersetzungs­tool der Wikipedia in der Beta-Version aus. Die Studierenden durften die Erfahrung machen, dass Diversität auch bedeutet, dass wir als Teilnehmende aus der Universität Mannheim auf einen Teil unserer Privilegien verzichten, hier also in einigen Sitzungen auf die deutsche Anleitung zur Beteiligung an der deutschen Wikipedia, und dafür andere, neue Teilnehmer:innen und neue Perspektiven hinzugewinnen, wenn die Wikipedia-Schreibwerkstatt auf Englisch durchgeführt wird.

  • Vermittlung von Praktiken der Digitalität

    Alle Teilnehmer:innen der Schreibwerkstatt, die die Wikipedia bisher fast ausschließlich als Rezipient:innen kannten, wechselten auf die Seite der Produzent:innen, erlernten kulturelle Praktiken der Digitalität, um schließlich an den gesellschaft­lichen Diskursen in der Wikipedia teilhaben zu können. Sie haben Artikelseiten über Wissenschaft­ler:innen und andere Personen erstellt und diesen zu mehr Sichtbarkeit verholfen.

    Stalder (2019) benennt drei Formen kultureller Praktiken der Digitalität (Stalder 2019, 13): erstens die Referenzialität nämlich „die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion“. In der Wikipedia lässt sich das vor allem durch die Verlinkung der selbst erstellten Wikipedia-Artikelseiten erreichen: mit sogenannten Inhaltslinks werden andere Wikipedia-Artikelseiten, über Einzelnachweise wird veröffentlichte Literatur verlinkt. Die verlinkten Kategorien am Ende jeder Artikelseite ordnen die Person in die En­zyklopädie ein. Die zweite Form kultureller Praktiken der Digitalität ist die Gemeinschaft­lichkeit und die Positionierung des Einzelnen in der Gemeinschaft. In der Wikipedia bezieht sich diese Form auch auf die gemeinschaft­liche Texterstellung, das kollektive Schreiben und deren Aushandlung. Hier konnten die Studierenden im geschützten Raum der Wikipedia-Schreibwerkstatt und in der Gemeinschaft der Wikipedia, mit Hilfe erfahrener Wikipedianerinnen, die als Rollen­modelle mit digitalen Kompetenzen fungierten, ihre ersten Artikel erstellen. Auch die Wikipedia-Hochschul­seiten zu den Seminaren waren dabei wichtig, weil sie die Verbindung zwischen Universität und Wikipedia-Community herstellten. Die dritte von Stalder benannte Form kultureller Praktiken der Digitalität betrifft die Nutzung automatisierter Verfahren und damit auch die Erarbeitung einer critical digital literacy. Als Editor:innen in der Wikipedia erhielten die Studierenden Textnachrichten von Bots, nutzten Übersetzungs-Tools und konnten ihre eigenen digitalen Spuren verfolgen. Über den Reiter Abrufstatistik können die Studierenden sehen, dass der „Kreis der interessierten Leserschaft“ im Vergleich zur Hausarbeit „um ein begrüßenswertes Vielfaches“ gewachsen war, wie ein Student (fantazie77) in einem meiner anderen Wikipedia-Seminare in unserem Seminar-Blog über seine Artikelerstellung schrieb. Auch die Sichtbarkeit von Frauen lässt sich über diese Tools genauestens verfolgen. So stiegen die Zugriffszahlen auf die Artikelseite zu „Shadi Sadr“ deutlich an, nachdem die Artikelseite von uns für die Rubrik „schon gewusst“ vorgeschlagen und schließlich dort auch genannt worden war.

     In einer das Projekt abschließenden Veranstaltung mit mehr als 45 Teilnehmenden hörten wir Vorträge von der Sprach­wissenschaft­lerin Eva Gredel und den Wikipedianerinnen Grizma und Leserättin. Gemeinsam wurden auf der anschließenden Podiumsdiskussion Strategien diskutiert, die den Gender-Gap und Gender-Bias in der Wikipedia weiter schließen helfen könnten.

  • Diskussionsfragen waren:

    Welche Strategien gibt es, um Frauenbiografien und Frauenthemen in der Wikipedia zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen?

    Welche Gründe gibt es für die geringe Zahl von Beitragenden und was können wir dagegen unternehmen?

    Welche Erfahrungen haben wir in der Wikipedaktik (der Anleitung zum reflektierten Umgang mit der Wikipedia im schulischen und universitären Umfeld), der Workshop-Arbeit und der Arbeit in feministischen Gruppen gemacht? Welche Aufgaben können wir übernehmen? Welche Bedeutung hat die Gemeinschaft beim Editieren? Wie können wir kollektiv und einschließend schreiben?

    Wie gendersensibel ist die Wikipedia-Gemeinschaft?

    Wie ist es um die Gender­gerechtigkeit in der Hierarchie der Wikipedia bestellt?

    Was können wir gegen un­freundliche Umgangstöne unternehmen? Welche Strategien gibt es? Welche Hilfen gibt es von WMDE?

    Wie haben die anwesenden Studierenden ihre Teilhabe an der Wissensproduktion für die Wikipedia erlebt, welche Erfahrungen sie gemacht haben?

  • Literatur

    • Bayer, Tilman (Benutzer:HaeB) (2022) Stand der Forschung zum Gender-Gap/Bias in der Wikipedia. FemNetz 2022, 29.1.2022. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Stand_der_Forschung_zum_Gender-Gap_Gender_Bias_in_der_Wikipedia_(FemNetz_2022).pdf (Abruf am 07.07.2023)
    • GFMK: Beschlüsse und Entschließungen der 32. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauen­ministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder (GFMK). 1. Juli 2022.
    • Stalder, F. (2018). Herausforderungen der Digitalität jenseits der Technologie. Synergie. Fach­magazin für Digitalisierung in der Lehre (5), S. 8 – 15. Verfügbar unter: uhh.de/kjeog [21.11.2023].
    • Stalder, Felix (2021): Kultur der Digitalität. 5. Aufl. Berlin: Suhrkamp.
    • Wikimedia Deutschland (2022): Stellungnahme für die Konferenz der Gleichstellungs- und Frauen­ministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder (GFMK). 21. November 2022.

Weiterführende Informationen

Abschluss­veranstaltung mit Podiumsdiskussion am 15. Mai 2023
Kooperationen
Wikipediaseiten zum Projekt
Kulturelle Praktiken der Digitalität
Zeit- und Themenpläne der Schreibwerkstatt
Weiterführende Links

Kontakt

Dr. Maja Linthe

Dr. Maja Linthe

Universität Mannheim
Philosophische Fakultät
Seminar für Deutsche Philologie
Germanistische Linguistik
L10 11–12 – Raum 110
68161 Mannheim
Sprechstunde:
Termine für Sprechstunden können unter folgendem Link gebucht werden: https://www.phil.uni-mannheim.de/germanistische-linguistik/team/dr-maja-linthe/
Weitere Termine können per Mail abgesprochen werden.
Daniela Brugger und Chris Regn

Daniela Brugger und Chris Regn

Kollaboratives Wikipedia-Projekt