Die Fakultät für Sozial­wissenschaften der Universität Mannheim zum 100. Geburtstags ihres Emeritus Hans Albert

Am 8. Februar 2021 vollendet Prof. em. Dr. rer. pol. Dr. h.c. mult. Hans Albert sein 100. Lebens­jahr.

Mehr als ein Vierteljahrhundert seines Lebens war er Inhaber des Lehr­stuhls für Soziologie und Wissenschafts­lehre an der Universität Mannheim. Vor 32 Jahren wurde er emeritiert. Sein Einfluss auf unsere Fakultät ist bis heute wirksam.

Aus der bei seiner Berufung noch bestehenden Wirtschafts­hochschule Mannheim wurde die Universität Mannheim. Aus deren Fakultät für Sozial­wissenschaften, die ursprünglich nur die Soziologie und die Politische Wissenschaft umfasste, ging nach mehreren Metamorphosen die heutige Fakultät mit den Fach­gruppen Politik­wissenschaft, Psychologie und Soziologie mit zurzeit 37 Professuren hervor.

Bei allen Unterschieden in den wissenschaft­lichen Fragestellungen dieser drei Disziplinen hat sich der von ihm in seinem Traktat über kritische Vernunft propagierte kritische Rationalismus inzwischen als gemeinsames Wissenschafts­verständnis durchgesetzt. All unsere Forscherinnen und Forscher orientieren sich theoretisch an rationalen Entscheidungs­modellen und überprüfen diese empirisch-analytisch mit rigorosen quantitativen Methoden. Die damit immer wieder gegebene Möglichkeit des Scheiterns der Theorie an der Empirie ermahnt uns, dass wissenschaft­liche Forschung kein Weg zu einer endgültigen Wahrheit sein kann, aber immer überprüfbar und replizierbar sein muss, um zu bestmöglicher vorläufiger Er­kenntnis zu gelangen.

Die von allen geteilte wissenschafts­theoretische Position und die gemeinsame empirisch-analytische Methodik sind eine wesentliche Grundlage für inter- und transdisziplinäre Forschung innerhalb unserer Fakultät aber auch übergreifend über die Fakultäten hinweg wie sie zum Beispiel im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung oder in den sozial­wissenschaft­lich orientierten Sonderforschungs­bereichen der Universität betrieben wurde und wird.

Stellvertretend für die Professorinnen und Professoren der Fakultät würdigt sein Nachfolger auf seinem Lehr­stuhl Hartmut Esser in einem eigenen Beitrag das Wirken Hans Alberts in unserer und für unsere Fakultät. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen gratuliere ich Hans Albert zu seinem 100. Geburtstag und seinem herausragenden wissenschaft­lichen Lebens­werk und danke ihm für sein Wirken an unserer Fakultät.

Michael Diehl
Hauptamtlicher Dekan


Hans Albert wird 100 Jahre.

Ein Beitrag zu seiner Bedeutung für die Entwicklung der Sozial­wissenschaften und der Soziologie der Mannheimer Prägung

von Hartmut Esser

Hans Albert wird 100 Jahre. Das ist gewiss ein ganz besonderer Grund, ihn, sein Werk und seine Bedeutung zu würdigen. Unabhängig von jedem besonderen Anlass kann man ohnehin nicht genug daran erinnern. Wir erleben es gerade aktuell wieder: Die Wissenschaft als das Funktions­system, in dessen Kern Wahrheitssuche und Problemlösung stehen, als Gegenstand mancherlei Vorstellungen, ob überhaupt und wie dann das ginge, fernab oft, in Beiträgen der Sozial­wissenschaften und der Soziologie besonders, von den methodologischen Regeln des Kritischen Rationalismus, für die Hans Albert, in Kongenialität mit Karl R. Popper, wie kaum jemand sonst steht: Die theoretisch geleitete und danach systematisch empirisch kontrollierte Suche nach Erklärungen, deren Anwendung und fortlaufende Verbesserung, am besten in der Form von korrigierenden Erklärungen, also der Erklärung, warum viele Theorien und Erklärungen nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren. Der sozusagen pädagogische Auftrag ist die Befolgung von Regeln, die der Versuchung entgegen wirken sollen, sich schon von Beginn selbst zu betrügen, indem alles möglichst offen gelassen wird, so dass die Theorien und Ergebnisse immer stimmen: Präzise Begriffsbildung, die Formulierung möglichst riskanter Hypothesen und der strenge empirische Test, denn, so der dazu gehörende Spruch aus dem methodologischen Kindergarten: (nur) aus unseren Fehlern lernen wir! Letztbegründungen gebe es indessen nicht, und alles, die Theorien, die zur Prüfung nötigen Hilfshypothesen, auch die Protokolle der Beobachtungen für den empirischen Test, die „Basissätze“, stehen auf schwankendem Grund: Man kann weder etwas endgültig beweisen, noch etwas wirklich widerlegen, das von Hans Albert so genannte Münchhausen-Trilemma also. Aber man kann bewusst eine Setzung für diese Regeln vornehmen – und versuchen, dafür möglichst „gute Gründe“ anzugeben: Die Wertbasis – auf die man sich, wie auf die Basissätze, einigen kann oder eben nicht. Und man kann damit im Hintergrund das Ziel der „Wahrheitsannäherung“ als ein vernünftiges regulatives Prinzip ansehen, auch wenn man nie sicher wissen kann, was eigentlich wirklich los ist.

Das ist in vielen Wissenschaften eine Selbstverständlichkeit, in großen Teilen der Sozial­wissenschaften freilich nicht, und schon gar nicht in der Soziologie. Das war der Gegenstand im sog. Positivismus-Streit von 1968, als Hans Albert schon in Mannheim war, mit Jürgen Habermas vor allem. Daraus folgte eine deutliche Spaltung, die es zwar vorher auch schon gab, jetzt aber ein Dokument gefunden hatte, das die Zuschreibungen erleichterte: Ökonomie, (Sozial-)Psychologie und andere eher analytische Sozial­wissenschaften nahmen die Debatte erst gar nicht wahr oder sahen sich in ihrer Orientierung am Kritischen Rationalismus bestärkt, in der Soziologie verschärften sich die Unterschiede und beschleunigten die Spaltungen in die diversen Paradigmen, und allgemein sah es so aus als hätte der Positivismus-Streit in der Soziologie nur einen Sieger gehabt: Den Methodendualismus und die Ablehnung der kritisch-rationalen Methodologie. Habermas ist inzwischen von fast allem abgerückt, Albert nicht.

In Mannheim ist das dann auch so gelaufen. Es war aber keine Einzeltat, sondern die glückliche Folge einer einmaligen Konstellation: Die institutionelle Begegnung von einigen der ganz Großen damals in den Kernfächern der Sozial­wissenschaften, der Ökonomie, der Sozial-Psychologie, der Politik­wissenschaften, der Soziologie und der daran orientierten Empirischen Sozialforschung: Martin Irle, M. Rainer Lepsius, Max Kaase, Rudolf Wildenmann und Wolfgang Zapf – und eben Hans Albert, der allen, auch in seiner besonderen, nicht selten streitbaren Art, methodologisch und philosophisch den Rücken frei hielt.

Für Hans Albert selbst war diese Kombination wohl, wie für alle anderen, so kann man annehmen, auch eine ideale Situation. Er hatte sich in seinem (Lebens-)Projekt von der „Einheit der Gesellschafts­wissenschaften“ immer schon gegen zwei Varianten der Immunisierung und Abschottung bestimmter Fächer und Richtungen gewandt: Den „Modellplatonismus“ der (neoklassischen) Ökonomie einerseits, und verschiedene Varianten des „Konstruktivismus“ andererseits, bei Hans Albert speziell in der Form des Konventionalismus nach Dingler, wie es ihn u.a. für die hermeneutischen Verfahren der interpretativen Soziologie gibt, dort auch unter der (irreführenden) Bezeichnung der Abduktion propagiert. Beides gibt es noch, teilweise verstärkt, etwa in der Soziologie oder in einer orthodoxen, formal bleibenden ökonomischen Spieltheorie. Voran gekommen ist man kaum – die Formelökonomie nicht, die mit ansehen muss, wie die experimentelle Forschung ihr ein Axiom nach dem anderen entzieht, die konstruktivistische Soziologie nicht, weil sie, es geht mit ihr nicht anders, meint, dass die „Wahrheit“ und das Erklären eine Frage der sozialen „Konstruktion“ und Durchsetzung einer Sichtweise ist.

In der Mannheimer Konstellation dieser Zeit und auch später war es vielmehr möglich zu sehen, wie es denn auch gehen kann: Die empirische Interpretation der theoretischen Konstrukte, ihre systematische Verbindung mit Hilfshypothesen der Messung und die empirische Über­prüfung, der Blick auf die Bedeutung von kognitiven Prozessen, „Einstellungen“ und der subjektiven und manchmal sehr begrenzten Rationalität, von „Interessen, Institutionen und Ideen“ aus der Soziologie von Max Weber und auch die Umsetzung in konkrete Messoperationen und der Abbildung von sozialen Ungleichheiten über „Soziale Indikatoren“ und die gesellschaft­liche Dauerbeobachtung. Hinzu kam von Beginn an, mit Mannheim als vormaliger „Wirtschafts­hochschule“ ganz zwanglos, der Kontakt zu den ökonomischen Fächern.

Entstanden ist darüber eine interdisziplinäre und später auch institutionelle Verzahnung, die der Vorstellung einer „Einheit der Gesellschafts­wissenschaften“ schon ziemlich nahegekommen ist – mit dem Kritischen Rationalismus als letztlich unbefragter Selbstverständlichkeit. Die Besonderheit war (und ist) das Bewusstsein, dass an verschiedenen Stellen und auch deutlichen Spezialisierungen, in der Tat an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet wird. Herausgekommen sind, neben vielen richtungs­weisenden Entwicklungen in der sozial­wissenschaft­lichen Methodologie, Theorien und Methoden, eine Reihe von Infrastruktur­einrichtungen, die wie kaum etwas anderes, die Sozial­wissenschaften nicht nur hierzulande, geprägt und nach vorne gebracht haben: GESIS und das SOEP, zum Beispiel, eine Serie von kumulativ angelegten Sonderforschungs­bereichen gerade für die Schnittstellen von Ökonomie, kognitiver Sozialpsychologie und Soziologie, mit denen die aktuellen Entwicklungen inzwischen allgemein beschäftigt sind, gewiss auch das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, das MZES. Ohne den verlässlichen Grund der Philosophie, dass nichts auf festem Grund steht und man sich nur darum mit den Regeln einer analytisch-empirischen Gesellschafts­wissenschaft bemühen kann, wäre das nicht möglich gewesen. Nur ein Exzellenzcluster hat es dafür nie gegeben. Vielleicht war das auch besser so.

Das waren gewiss besondere Zeiten und Konstellationen, und meist vergeht der Gründergeist recht bald. Es war auch keineswegs immer Einigkeit und Einverständnis, gewiss auch nicht, was die methodologischen Regeln angeht. Die Mannheimer Fakultät war auch inhaltlich nie ein monolithischer Block, und wer es denn wollte, konnte allen Richtungen nachgehen, zumal mit Heidelberg in der Nähe. Als sein Nachfolger auf dem Lehr­stuhl für „Soziologie und Wissenschafts­lehre“ bin ich selbst einmal ins Schussfeld geraten: Hans Albert gingen die Bemühungen um eine Integration auch der hermeneutisch-interpretativen Ansätze in eine erklärende Soziologie dann doch zu weit – und hat mich in einem Kolloquium öffentlich als den Eugen Drewermann der Soziologie bezeichnet – und dann zur Strafe in Alpbach eine Woche mit Luhmann zusammengesperrt.

Den strukturellen Vorteil aus der beschriebenen Konstellation hat die Fakultät allerdings immer behalten: In den Veranstaltungen und Forschungen stützte das, was da vorkam, und sei es als Prüfstein für ihren Sinn in der praktischen Arbeit, die „guten Gründe“ der Wertbasis der methodologischen Vorgaben des Kritischen Rationalismus und allem, was daran hängt. Man müsste es aber eigentlich gleich zu Beginn mitbekommen. Das aber wird, es ist nicht zu leugnen, nicht leichter: In den BA-Studien­gängen ist kaum noch Platz dafür, und angesichts der ja wünschenswerten Mobilität danach, sind viele mit manchen Grundregeln nicht genügend vertraut und finden es womöglich auch lästig angesichts des Zeit- und Produktions­drucks, den es inzwischen gibt. Hans Albert könnte man wohl kein schöneres Geschenk zu seinem Geburtstag bereiten, als die Bemühungen zu unterstützen, die frühe Ausbildung in Wissenschafts­lehre trotz dieser Entwicklungen weiter zu pflegen und hoch zu halten. Wenigstens in Mannheim. Und überall da, wo sein Mannheimer Geist sonst noch weht.