Bild des Ehrenhofs der Universität Mannheim mit der Aufschrift "FORUM. Das Magazin von Absolventum und der Universität Mannheim."

„Bloßer Zuschauer kann man eigentlich gar nicht sein“

Dr. Andrea Löw ist stellvertretende Leiterin des Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München und forscht schwerpunktmäßig zu Judenverfolgung und Gettoisierung in der NS-Zeit. Seit 2018 hat sie einen Lehr­auftrag am Lehr­stuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim inne. Was sich in den letzten Jahren in der Holocaust-Forschung getan hat, warum sich manche Länder mit der historischen Aufarbeitung schwertun und wie man die Menschen wieder zum Zuhören bringt – darüber hat FORUM mit ihr gesprochen.

FORUM: Der Holocaust ist im deutschen Bewusstsein allgegenwärtig. Ob im Schul­unterricht, in Gedenkstätten oder in Spielfilmen – man hat das Gefühl, das Thema wurde bereits aus allen Perspektiven beleuchtet. Ist der Holocaust nicht ausgeforscht?

Dr. Andrea Löw: Überhaupt nicht. Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren sogar einen wirklichen Boom in der Holocaustforschung. Denn erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich für uns viele der osteuropäischen Archive geöffnet. Seitdem können wir sehr viele neue Quellen anschauen – und natürlich ganz andere Fragen stellen. Eine, mit der wir uns erst seit Kurzem intensiv beschäftigten: Wie haben die verschiedenen Beteiligten während des Holocausts wirklich gehandelt? Also nicht nur Täter und Opfer, sondern vor allem die große Gruppe derer, die dem Morden scheinbar tatenlos zugesehen hat.

FORUM: Was macht diese Gruppe für die Forschung so interessant?

Dr. Andrea Löw: Bloßer Zuschauer kann man eigentlich gar nicht sein. Wenn die Nachbarn ausgegrenzt, ausgeraubt oder getötet werden, muss ich mich irgendwie verhalten. Ein polnischer Bauer kann beispielsweise von jemandem, der Juden versteckt und geschützt hat, zu jemandem werden, der sie am Ende denunziert oder sogar ermordet, weil er Angst um sein eigenes Leben hat. Indem wir uns das Verhaltensspektrum sämtlicher Beteiligten anschauen, lernen wir etwas darüber, wie soziale Dynamiken zur Brutalisierung geführt haben.

FORUM: Wenn man den Fokus auf soziale Prozesse legt, droht man damit nicht die Verantwortung des Einzelnen zu relativieren?

Dr. Andrea Löw: Das Gegenteil ist der Fall, die Verantwortung des Einzelnen gerät gerade in den Fokus. Ich glaube nicht, dass der Blick auf soziale Prozesse es leichter macht, mit der Thematik umzugehen. Ich finde es fast schwieriger, weil es uns zeigt, wie all diese normalen Menschen, die weder überzeugte Antisemiten waren noch andere stigmatisierte Gruppen gehasst haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen und in ganz unterschiedlichen Situationen beim Holocaust mitgemacht haben. Das finde ich noch viel beunruhigender.

FORUM: Wenn Sie sich diese sozialen Prozesse anschauen, die zur Machtergreifung der NSDAP führten, und diese mit heutigen Entwicklungen vergleichen – wie stark sind da die Parallelen?

Dr. Andrea Löw: Dokumente von damals zeigen eindeutig Parallelen. Mit welchen Argumenten darin zum Beispiel gegen Geflüchtete argumentiert und Fremdenhass geschürt wird – da denkt man manchmal, man liest Zeitungs­berichte von heute. Deshalb ist es auch wichtig, sich anzuschauen, wie solche Dynamiken früher verlaufen sind – auch wenn das kein Allheilmittel für die Probleme der Gegenwart ist. Doch wenn wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sich diese Entwicklung damals radikalisiert hat, können wir vielleicht auch ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Menschen heute mehr hinschauen müssen und nicht gleichgültig sein dürfen.

FORUM: In Frankreich hat Macron erst vor Kurzem eine Mitschuld der Franzosen bei der Deportation der Juden in Polen eingeräumt. In Polen gibt es ein Gesetz, das verbietet, der polnischen Nation eine Mitverantwortung für den Holocaust anzulasten. Warum tun sich manche Länder immer noch schwer, mit der eigenen Verantwortung umzugehen?

Dr. Andrea Löw: Die meisten dieser Länder haben sich nach 1945 erst einmal als Opfer gesehen, das ist vollkommen verständlich. Dort gab es aus eigener Sicht Widerstandskämpfer, Opfer und eine kleine Anzahl von Verrätern. Dieses Selbstbild aufzubrechen, ist ein sehr schmerzhafter Prozess. In Polen beispielsweise, wie auch in anderen Ländern in der sowjetischen Einflusszone, konnte eine freiheitliche Diskussion überhaupt erst seit den 1990er Jahren stattfinden. Es gab dann aber schon sehr früh auch große Debatten über Mitverantwortung, das darf man nicht verkennen – auch wenn diese Entwicklung mit der aktuellen Regierung leider gerade ins Stocken gerät.

FORUM: Auch in Deutschland gibt es inzwischen Tendenzen, den Holocaust öffentlich zu relativieren, teilweise sogar zu leugnen. Manche Menschen möchten von dem Thema gar nicht mehr hören. Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?

Dr. Andrea Löw: Wir Forscher müssen uns fragen, wie wir die Geschichte so erzählen können, dass die Menschen wieder zuhören wollen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn wir nicht in einem moralisierenden Tonfall darüber sprechen, sondern von Menschen und ihren Erfahrungen, ihren individuellen Geschichten berichten, dann hören die Leute plötzlich zu. Ich habe zum Beispiel an einer Quellenedition mitgewirkt. Da werden Dokumente wie Tagebücher, Anordnungen und Briefe – aus allen Perspektiven und Ländern – zusammengeführt. Der Bayerische Rundfunk hat daraus eine Höredition gemacht und lässt Schauspieler die Dokumente vorlesen und Überlebende berichten. Das hat großen Anklang in Schulen gefunden.

FORUM: Finden die Ergebnisse der Holocaust-Forschung genug Eingang in die öffentliche Debatte?

Dr. Andrea Löw: Ich glaube nicht, dass unsere Forschungs­ergebnisse so breit in die Öffentlichkeit kommen, wie das für eine sachlichere Diskussion nötig wäre. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich mich freue, diesen Lehr­auftrag in Mannheim angenommen zu haben. Denn wenn ich hier viele Studierende in meinen Seminaren habe, die Lehrer werden und ihr Wissen später an Schüler weitergeben, ist das ein wichtiger Schritt, unsere Forschungs­ergebnisse in die Öffentlichkeit zu tragen.

Interview: Linda Schädler / Oktober 2019