Die Aufnahme von Flüchtlingen erhöht langfristig das Pro-Kopf-Einkommen, die Produktivität und die Löhne in Deutschland

Eine neue Studie der Wirtschafts­wissenschaft­ler Antonio Ciccone (Universität Mannheim) und Jan Nimczik (ESMT Berlin) untersucht die langfristigen wirtschaft­lichen Folgen des Zuzugs von Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg

Pressemitteilung vom 15. März 2022
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Welche Aus­wirkungen hatte die Aufnahme von Geflüchteten nach dem Zweiten Weltkrieg auf die heutige Produktivität, Löhne, Pro-Kopf-Einkommen und Bevölkerungs­dichte? Eine neue Studie zeigt, dass fast 75 Jahre später die Bevölkerungs­dichte in Gemeinden, die viele Geflüchtete aufgenommen haben, immer noch höher ist als in jenen, die wenige aufnahmen. Gleichzeitig haben Gemeinden mit mehr Geflüchteten heute ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, eine höhere Produktivität und höhere Löhne. So stiegen das Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität langfristig um etwa 13 Prozent und die Löhne um etwa 10 Prozent.

Prof. Ciccone und Prof. Nimczik untersuchen die wirtschaft­liche Entwicklung von Gemeinden direkt an der Grenze zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungs­zone im heutigen Baden-Württemberg. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen Menschen nach Westdeutschland vertrieben. Zu dieser Zeit war Deutschland in vier alliierte Besatzungs­zonen aufgeteilt. Da die französische Besatzungs­zone den Zugang von Geflüchteten beschränkte, ließen sich die meisten in der amerikanischen, britischen und sowjetischen Besatzungs­zone nieder.

„Die Folgen heute sind deutlich zu sehen, wenn man gegenüberliegende Gemeinden direkt an der ehemaligen Grenze zwischen den Besatzungs­zonen vergleicht“, erklärt Antonio Ciccone. „1950, dem Jahr nachdem die Besatzungs­zonen aufgelöst wurden, gab es in den Gemeinden auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze viel mehr Geflüchtete. Dadurch war die Bevölkerungs­dichte 20 Prozent höher als auf der gegenüberliegenden, ehemaligen französischen Seite.“ Vor der Ankunft der Geflüchteten hatte es dagegen keine Unterschiede in der Bevölkerungs­dichte an der Grenze gegeben.

70 Jahre nach Auflösung der Besatzungs­zonen ist die Bevölkerungs­dichte in den Gemeinden auf der ehemaligen amerikanischen Seite der Grenze immer noch höher – und zwar um etwa 25 Prozent – als in den gegenüberliegenden Gemeinden. Dies geht einher mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen, einer höheren Produktivität und höheren Löhnen.

„Kriege, landes­interne Konflikte, wirtschaft­licher Zusammenbruch und der Klimawandel verursachen auch heute noch massive Flüchtlingsbewegungen. Natürlich müssen humanitäre Erwägungen die Hauptmotivation für die Maßnahmen zur Unterstützung von Geflüchteten sein. Aber auch die wirtschaft­lichen Kosten und Nutzen haben schon immer eine Rolle gespielt. Die öffentliche Debatte in den potenziellen Aufnahmeländern konzentriert sich meist auf die kurz- und mittelfristige Perspektive. Der Fall der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zeigt, dass auch der längerfristige, wirtschaft­liche Nutzen beträchtlich sein kann“, sagt Prof. Nimczik.

Die Geflüchteten des Zweiten Weltkriegs wurden in Westdeutschland nicht überall willkommen geheißen oder als Gleichberechtigte behandelt. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie allgemein akzeptiert und integriert wurden. „Die wirtschaft­lichen Vorteile, die Gemeinden heute durch die damalige Aufnahme von Heimatvertriebenen haben, stellten sich erst nach und nach ein. Sie sind zum Zeitpunkt der Aufnahme der Geflüchteten und in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Ankunft nicht erkennbar gewesen“, erläutert Prof. Ciccone. Letztendlich scheinen die wirtschaft­lichen Aus­wirkungen jedoch erheblich gewesen zu sein.

Die Untersuchung stützt sich auf Daten der Statistik-Ämter, die im Rahmen einer Open-Data-Strategie seit Kurzem zugänglich sind.

Link zur Originalpublikation

 

Kontakt:
Prof. Dr. Antonio Ciccone 
Lehr­stuhl für VWL, Makroökonomie und Finanz­märkte
Universität Mannheim
https://www.vwl.uni-mannheim.de/ciccone/
E-Mail: antonio.cicconemail-uni-mannheim.de 

Prof. Dr. Jan Nimczik
ESMT Berlin
https://faculty-research.esmt.berlin/person/jan-sebastian-nimczik/bio
E-Mail: jan.nimczikmail-esmt.org

Katja Bauer
Stellv. Pressesprecherin
Universität Mannheim
E-Mail: katja.bauermail-uni-mannheim.de