Soziale Ausgrenzung: Lehr­kräfte würden eher den Mädchen helfen

Eine aktuelle Studie hat untersucht, welche Rolle das Geschlecht für die Reaktionen von Lehr­kräften auf soziale Ausgrenzung unter ihren Schülerinnen und Schülern spielt. 101 Lehr­kräfte wurden nach einer fiktiven Situation befragt. Demnach würden sie einem ausgegrenzten Mädchen eher beispringen als einem Jungen. Ein weiteres Ergebnis: Die weiblichen Lehr­kräfte lehnen soziale Ausgrenzung stärker ab als ihre männlichen Kollegen, würden aber dennoch nicht häufiger eingreifen. Die Studie wurde vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungs­forschung und Bildungs­information sowie der Universität Konstanz und der Universität Mannheim durchgeführt.

Gemeinsame Pressemitteilung mit dem DIPF | Leibniz-Institut für Bildungs­forschung und Bildungs­information und der Universität Konstanz vom 25. Mai 2022
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Schülerinnen und Schüler erleben immer wieder soziale Ausgrenzung. Das kann von Auslachen über fehlenden Gruppen­anschluss bis zu gezieltem Mobbing reichen. Dadurch leidet ein psychologisches Grundbedürfnis der Kinder und Jugendlichen: das Zugehörigkeits­gefühl. Dies kann sich wiederum negativ auf ihre gesamte Entwicklung auswirken. Lehr­kräfte können durch ihr Eingreifen in Situationen sozialer Ausgrenzung helfen und vermitteln, mischen sich dennoch nicht immer ein.

Aber unter welchen Voraussetzungen entscheiden sich Lehr­erinnen und Lehrer für ein Eingreifen? Dieser Frage sind bereits einige wissenschaft­liche Studien nachgegangen. Um diese bestehenden Befunde zu vertiefen, hat sich die neue Studie des DIPF sowie der Universitäten in Konstanz und Mannheim darauf konzentriert, welche Rolle das Geschlecht bei der Intervention spielt. Dabei ging es sowohl um das Geschlecht der Lehr­kräfte als auch das der jeweils betroffenen Schülerinnen und Schüler. „Da die Geschlechter unterschiedlich sozialisiert werden und an Jungen und Mädchen auch verschiedene soziale Erwartungen gerichtet werden, wollten wir in einem ersten Schritt herausfinden, ob sich je nach Geschlecht von Lehr­kraft oder Schüler unterschiedliche Reaktionen der Lehrer zeigen“, erläutert Dr. Hanna Beißert vom DIPF. Sie ist die Erstautorin eines aktuellen Beitrags in der Fach­zeitschrift „Frontiers in Education“, in dem die neue Studie vorgestellt wird.

Lukas und Julia werden ausgegrenzt

Das verantwortliche wissenschaft­liche Team hat diese Fragen mit einer Untersuchungs­gruppe von insgesamt 101 teilnehmenden Lehr­erinnen und Lehr­ern von unterschiedlichen Schulen und mit unterschiedlicher Berufserfahrung in den Blick genommen. Ihnen allen wurde ein Text über ein fiktives Szenario sozialer Ausgrenzung in der Schule vorgelegt, bei dem eine Lern­gruppe eine Mitschülerin oder einen Mitschüler nicht dabeihaben will. Allerdings hieß die in dem Szenario ausgegrenzte Person bei etwa der Hälfte der an der Studie Teilnehmenden Lukas, die restlichen Lehr­kräfte lasen von einer Julia, die ausgeschlossen wird. Anschließend beantworteten alle Lehr­erkräfte einen Fragenkatalog. Sie sollten unter anderem auf Skalen einordnen, wie sie das ausgrenzende Verhalten der Schüler­gruppe bewerten und wie wahrscheinlich es ist, dass sie in der Situation eingreifen würden.

Im Ergebnis fiel ein Befund besonders ins Auge: Im Schnitt besteht zwar bei allen Lehr­kräften eine Tendenz, in die Situation einzugreifen. Bei einem ausgeschlossenen Jungen sind die Lehr­erinnen und Lehrer aber deutlich unentschlossener als bei den Mädchen, wo die Lehr­kräfte sehr stark dazu neigen, zu intervenieren. „Es fällt auf, dass diese unterschiedlichen Reaktionen zu bestimmten sozialen Zuschreibungen passen, auch wenn wir diese Erklärung aus unserer Untersuchung nicht gesichert ableiten können“, so Bildungs­forscherin Beißert. Zu solchen Stereotypen gehört beispielsweise, dass Mädchen schutz­bedürftiger und Jungen widerstands­fähiger seien. Ein weiteres augenfälliges Ergebnis der Studie: Auch wenn alle Lehr­erkräfte soziale Ausgrenzung insgesamt deutlich ablehnten, war diese Haltung bei den Frauen unter ihnen noch stärker ausgeprägt. Entgegen den Erwartungen des wissenschaft­lichen Teams führte dieser Unterschied aber nicht zu verschiedenen Reaktionen: Die weiblichen Lehr­kräfte würden dennoch nicht häufiger eingreifen als ihre männlichen Kollegen. Möglicherweise, durch die aktuellen Befunde aber noch nicht belegbar, spiele auch hier die Sozialisation der Lehr­erkräfte eine Rolle, so Dr. Beißert.

Folge-Untersuchungen und Implikationen für die Praxis

Die genauen Gründe für das geschlechts­spezifisch unterschiedliche Verhalten der Lehr­kräfte und dabei die Rolle von Sozialisation und sozialen Zuschreibungen muss in weiteren wissenschaft­lichen Arbeiten erforscht werden. Auch ist die Aussagekraft der aktuellen Studie eingeschränkt, da die Ergebnisse auf einem fiktiven Szenario und auf Aussagen der Lehr­erinnen und Lehrer über ihre möglichen Reaktionen beruhen. Die Befunde könnten beispielsweise durch Erhebungen im echten Schulalltag erhärtet werden. Dennoch sieht die Forscherin des DIPF in den aktuellen Befunden bereits wertvolle Fingerzeige für die Schulpraxis: „Die unterschiedlichen Reaktionen der Lehr­kräfte bei Mädchen und Jungen erfolgen ja oft nicht mit Absicht, sondern unbewusst. Daher kann es hilfreich sein, dafür zu sensibilisieren, dass auch Jungen unter sozialer Ausgrenzung leiden und es sich lohnen könnte, bei ihnen eher einzugreifen, als man das gewohnt ist.“

Der Fach­artikel, in dem das verantwortliche wissenschaft­liche Team die Studie beschreibt:

Beißert, B., Staat, M. & Bonefeld, M. (2022). The role of gender for teachers' reactions to social exclusion among students. Frontiers in Education, 7:819922. doi: 10.3389/feduc.2022.819922

Der Beitrag ist im Open Access veröffentlicht:

https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/feduc.2022.819922/full

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