„Darf ich das oder muss ich sogar?“

Der Mannheimer Philosophieprofessor Bernward Gesang stellt in seinem 2017 erschienenen Buch „Darf ich das oder muss ich sogar?“ ethische Fragen, die zum Nachdenken anregen. Dabei bezieht er als bekennender Utilitarist selbst Stellung. Wie wir durch die praktische Anwendung von Philosophie diese Welt ein bisschen besser machen können, erklärt er im Interview mit FORUM.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich immer mehr Menschen ins Private zurückziehen.

Ja, das war überhaupt der Anlass mein Buch zu schreiben. Ich wollte damit Menschen erreichen, die ethischen Fragen gegenüber aufgeschlossen sind, aber sich mit solchen aus verschiedenen Gründen nicht auseinandersetzen möchten. Diese Leute wollte ich quasi aufrütteln, sich vom Sofa zu erheben.

Sie sprechen dazu eine ganze Reihe von alltäglichen moralischen Fragen an, etwa die Flüchtlingskrise, die Entwicklungs­hilfe, auch die Energiewende. Muss man sich da überall einmischen?

Es ist keineswegs ein Appell, in allen diesen Bereichen aktiv zu werden. Das könnte schnell überfordern. Das Buch soll vielmehr zeigen, dass dieselbe Theorie des ethischen Utilitarismus in sehr unterschiedlichen Anwendungs­feldern zu plausiblen Ergebnissen führt. Es ist aber auch so, dass wir als Wähler tatsächlich mit Entscheidungen in diesen Themengebieten konfrontiert werden. Von uns wird letztendlich erwartet, auf allen diesen Feldern Entscheidungen zu treffen, wenn wir Repräsentanten wählen, die in unserem Auftrag abstimmen. Das erspart uns niemand.

Entscheiden wir denn nicht bereits auf Basis unserer Moralvorstellungen?

Die eigene Alltagsmoral ist oft geprägt von ziemlich großen Widersprüchen. Nur keiner glaubt, dass das ihn oder sie selbst betrifft. Konfrontiert mit ethischen Fragen sieht man jedoch, dass wir meistens nach einem ziemlich prinzipienlosen Patchwork von Intuition handeln. Und da das moralische Handeln einen großen Teil unseres Selbstwertgefühls ausmacht, können wir es uns eigentlich nicht leisten, unsere Standards auf Sand zu bauen, wie das im Alltag häufig passiert. Fast jeder kann davon profitieren, sich dieser philosophischen Herausforderung zu stellen.

Geht der Trend nicht europaweit eher zur Vereinfach­ung und zum Populismus?

Ich muss gestehen, dass der politische Trend der letzten Jahre mich sehr überrascht hat – angefangen bei Trump und dem Brexit bis hin zur politischen Lage in einigen osteuropäischen Ländern. Da optimistisch zu bleiben, ist tatsächlich ein hartes Stück Arbeit. Aber Philosophie ist nicht gleich unverdauliche Kost: Seit Beginn der Aufklärung versucht man auch in der Philosophie, die Menschen emotional zu packen, indem man Argumente lebhaft veranschaulicht.

So kann Philosophie die Welt verändern?

Nehmen Sie ein einfaches psychologisches Experiment: Eines zeigt etwa Kinder beim Bonbonklauen. Sobald man einen Spiegel aufhängt, so dass die Kinder sich selbst sehen und sich bewusst werden, was sie da tun, nimmt die Zahl der geklauten Bonbons rapide ab. Ähnlich kann man mit philosophischen Argumenten versuchen, den Leuten einen Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, was sie eigentlich tun. Diese Er­kenntnis kann  Einstellungen verändern und Leute zu einem anderen Handeln bewegen. Es ist natürlich schwierig, aus diesen kleinen Laborsituationen große Bewegungen entstehen zu lassen oder die Welt als Ganzes ein Stückchen weiter zu bewegen. Andererseits haben wir wenig anderes als die Macht der Ideen und müssen darauf setzen, dass es letztendlich in den Köpfen zu einem Fortschritt kommt.

Utilitaristen geht es um die Vergrößerung des Wohlstands. Wo führt das hin, wenn wir alle utilitaristisch handeln?

Zur Maximierung des Glücks auf der Welt. Ein Beispiel gibt der australische Philosoph Peter Singer, der die Bewegung „The Life You Can Save“ ins Rollen gebracht hat. Er hat sich der Aufgabe verschrieben, das Leiden und die Armut auf der Welt zu mindern. Das wäre jemand, den ich zurzeit als Kandidat für den Friedensnobelpreis sehen würde.

Interview: Yvonne Kaul / April 2018