Dollmann: Wenn sich die Eltern an das, was die Lehrer ihnen vorschreiben, halten müssen, ist das sozial weniger selektiv. Es ist ein bekannter Befund, dass Bildungsaspirationen abhängig sind von der sozialen Schicht. Plakativ formuliert: Die Anwältin will, dass ihr Kind Abitur macht – egal wie. Dem Arbeiter reicht unter Umständen schon der Realschulabschluss, obwohl sein Kind vielleicht zu mehr fähig wäre. Verbindliche Schulempfehlungen können da als soziales Korrektiv dienen.
Dollmann: Damit wären wir bei einem anderen Punkt, nämlich ethnischen Bildungsungleichheiten und deren Ursachen. Lehrkräfte ziehen in ihre Empfehlungen Prognosen mit ein, ob es das jeweilige Kind auf dem Gymnasium schaffen kann – das geschieht aber eher entlang sozialer anstatt ethnischer Grenzen. Migranteneltern haben oftmals ein niedrigeres Bildungsniveau und sind sozial schlechter gestellt. Entscheidet sich der Lehrer im Zweifelsfall gegen eine Gymnasialempfehlung, wird dies schnell als Diskriminierung gegen die Herkunft des Schülers wahrgenommen. Damit wäre ich jedoch vorsichtig. Im Einzelfall mag das vorkommen. Es zeigt sich jedoch in vielen Forschungsarbeiten, dass ethnische Diskriminierung für die generellen Muster, die wir mit Blick auf Bildungsungleichheiten beobachten, keine zentrale Rolle zu spielen scheint.
Dollmann: Hier laufen aus ethnischer und sozialer Sicht ebenfalls unterschiedliche Prozesse ab. Migranten haben genauso wie sozial höher gestellte Schichten sehr hohe Aspirationen für ihre Kinder – unabhängig von deren Leistungen. Das hängt wohl damit zusammen, dass viele mit dem Ziel hierherkommen, ihrer Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Wann immer sie die Chance haben, ihrem Kind einen besseren Bildungsweg zu ermöglichen, machen sie das auch – das gilt besonders für türkische Familien. Überlässt man ihnen die Entscheidung, handeln sie ähnlich wie die Akademikerfamilien. Unverbindliche Empfehlungen reduzieren also die ethnische Ungleichheit, während sie die soziale Ungleichheit erhöhen – beides gleichzeitig zu verbessern, scheint nicht möglich zu sein.
Dollmann: Am Beispiel von Baden-Württemberg kann man sehen, dass dem nicht unbedingt so ist. Als die grün-rote Landesregierung die unverbindliche Schulempfehlung eingeführt hat, mussten mehr Schüler die fünfte Klasse wiederholen oder sogar auf die Realschule wechseln. Es ist davon auszugehen, dass Migrantenkinder, die durchschnittlich eher schwächere Leistungen in der Schule erzielen, besonders von diesen Klassenwiederholungen betroffen sind. Derart ambitionierte Bildungsentscheidungen und mögliche Folgeprobleme findet man übrigens nicht nur am Ende der Grundschulzeit. Auch nach dem Realschulabschluss wechseln mehr Schüler mit Migrationshintergrund auf ein Gymnasium als Deutsche. Ich untersuche in einem neuen Forschungsprojekt, wie sie dabei abschneiden. Erste Befunde deuten darauf hin, dass sie es auf diesem zweiten Weg vergleichsweise seltener zum Abitur schaffen als Schüler ohne Migrationshintergrund.
Dollmann: Doch die gibt es, denn einige schaffen es ja dennoch, aber diese Mobilität benötigt eben Zeit. Die dritte, teilweise aber auch bereits die zweite Einwanderergeneration schließen in ihrem Bildungserfolg schon deutlich zur deutschen Bevölkerung auf. Und diese Bildungsunterschiede – sofern sie in späteren Generationen noch bestehen – sind dabei größtenteils nichts spezifisch Ethnisches. Die Menschen, die man aus der Türkei in den 60ern nach Deutschland holte, waren eben keine Hochschulabsolventen, sondern wurden oftmals als Hilfsarbeiter angeworben. Das braucht dann einfach Zeit bis irgendwann einmal ein Kind als erstes in der Familie ein Gymnasium besucht und studieren geht. Wären es damals alle Ärzte gewesen, würde das heute sicherlich anders aussehen.
Interview: Nadine Diehl / April 2018