Betreuungs­not: Starker Rückgang bei der Arbeits­zeit von Eltern erwartet

Neue Studie untersucht Herausforderungen, die sich durch das Wiederhochfahren der Wirtschaft während der Corona-Pandemie ergeben.

Das Hochfahren geht einher mit mehr Präsenzzeiten am Arbeits­platz, die die Eltern aber oft nicht leisten können. Prof. Michèle Tertilt, Professorin für Makro- und Entwicklungs­ökonomie an der Universität Mannheim, untersucht zusammen mit Prof. Moritz Kuhn (Universität Bonn) und Prof. Nicola Fuchs-Schündeln (Goethe-Universität Frankfurt) die Folgen mangelnder Betreuungs­angebote für Kinder und ihr Zusammenspiel mit der verfügbaren Arbeits­zeit berufstätiger Eltern. Basierend auf dem European Labor Force Survey von 2018 haben die Forscher ausgerechnet, wie viele Erwerbstätige mit wie vielen Arbeits­stunden von den Schulschließungen grundsätzlich betroffen sein dürften. Das Ergebnis: Der Anteil der Eltern, die von geschlossenen Schulen und Kindergärten betroffen ist, ist doppelt so hoch wie die Gesamtzahl der Arbeits­losen in Deutschland.

Trotz der schrittweisen Öffnungen kann in Kindergärten und Schulen von Normalität keine Rede sein. Regel­unterricht fand in den meisten Bundes­ländern bis zu den Sommerferien erst einmal nicht statt. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies: Jeder vierte Erwerbstätige in Deutschland hat Kinder bis 14 Jahre und ist daher von den Schul- und Kitaschließungen betroffen. Das entspricht den rund zehn Millionen Beschäftigten des verarbeitenden Gewerbes und der Bauindustrie in Deutschland. Das Forscherteam nutzt für seine Schätzungen die Daten aus dem Jahr 2018 der Arbeits­kräfteerhebung der EU (AKE).

Berücksichtigt man, dass beispielsweise ältere Geschwister oder ein nicht arbeitendes Elternteil die Betreuung der Kinder übernehmen, sind immer noch 20 Prozent der Erwerbstätigen von geschlossenen Schulen und Kindertagesstätten betroffen. Häufig wird das Betreuungs­problem dadurch gelöst, dass ein Elternteil zu Hause bleibt. Dann – so schätzen die Forscher – würden den Arbeitgebern elf Prozent der Erwerbstätigen fehlen. Damit ist der Anteil der von der Betreuungs­not betroffenen Eltern fast doppelt so hoch wie die derzeitige Arbeits­losenquote in Deutschland (5,8 Prozent im April 2020).

Wenn die Kinder klein sind, ist es zumeist die Mutter, die ihre Arbeits­zeit reduziert. Die untersuchten Daten zeigen, dass in 82 Prozent der untersuchten Haushalte die Frau weniger arbeitet als der Mann. Berücksichtigt man die reduzierte Arbeits­zeit eines Elternteils, zeigen die Forscher, dass 8,4 Prozent der geleisteten Arbeits­stunden von einem Arbeits­ausfall auf Grund fehlender Kinderbetreuung betroffen wären – das entspräche dem achtfachen kurzarbeitbedingten Stundenausfall während der Finanz­krise 2009. Die gesamtwirtschaft­liche Bedeutung arbeitender Eltern zeigt sich hier deutlich.

„Die makro­ökonomischen Kosten sind gewaltig. Das ist bisher noch viel zu wenig diskutiert worden“, sagt Tertilt. „Der Familienbonus im aktuellen Konjunkturpaket hilft da eher wenig. Wichtiger wäre es, die Schulen und Kitas wieder zu öffnen, damit die Eltern wieder arbeiten können. Wenn Eltern mehr Geld verdienen, geben sie mehr aus, und die Steuereinnahmen gehen auch wieder hoch.“ Tertilt fügt hinzu: „Darüber hinaus sind Mütter wesentlich stärker als Väter betroffen. Ich erwarte daher, dass sich mittelfristig die Einkommensschere von Müttern und Vätern weiter spreizen wird.“ Die Größenordnung des Problems haben die Wissenschaft­ler in einem quantitativen Modell mit amerikanischen Daten durchgerechnet. „Langfristig kann dieser Trend aber auch wieder abnehmen“, so Tertilt.

Text: Yvonne Kaul / September 2020