Energieinseln mitten in Europa

Was haben das San Raffaele Hospital in Segrate bei Mailand, die Technische Universität Poznan in Polen und eine Neubausiedlung im Hafen von Gent gemeinsam? Auf den ersten Blick wahrlich nicht viel. Und doch eint diese Orte etwas: Hier entstehen Energieinseln mitten in Europa.

Sanft schaukelnde Schiffskutter, fest vertäute Hausboote mit einladenden Klappstühlen an Deck, zwei alles überragende, himmelblaue Hafenkräne. Dem marinen Industriecharme des hippen Hafenviertels Nieuwe Dokken im belgischen Gent kann sich der Betrachter nur schwer entziehen. Drei große Wohneinheiten wurden hier von der neu gegründeten Nachhaltigkeits­genossenschaft „Du Coop“ hochgezogen, in Terrassenbauweise mit freiem Blick auf das Wasser des Hafendocks. Passend zu diesem Ambiente lautet der Werbespruch, der potenzielle Wohnungs­käufer anlocken soll: „Wohnen am Wasser. Baden im Licht.“ Vermutlich spielt dieser Spruch eher auf die großen Glasfronten der Wohneinheiten, auf die sensationelle Aussicht über den drittgrößten Binnen­hafen Belgiens und auf die sich im Wasser spiegelnde Abendsonne an – und dennoch könnte er die innovative Kreislaufwirtschaft, die in diesem Neubauviertel entsteht, nicht besser auf den Punkt bringen. Dank Photovoltaikanlage auf dem Dach und zentraler Wärmeaufbereitung im Keller wird das Badewasser bereits jetzt oft unmittelbar vom Sonnenlicht erwärmt. Wer hier also warmes Wasser in die Wanne einlässt, badet automatisch im Licht. Neben der Neubausiedlung in Gent entstehen auch an zwei weiteren europäischen Standorten solche Energieinseln, deren wissenschaft­liche Begleitung von der Europäischen Union gefördert wird. Ein internationales Forschungs­team erforscht das Energie­management regenerativer Energien – 100% Energieautarkie lautet das ehrgeizige Ziel der drei innovativen Einzel­standorte. Mittendrin: Projektleiterin Dr. Sonja Klingert vom Lehr­stuhl Wirtschafts­informatik II der Universität Mannheim. Sie hält die Projektfäden fest in der Hand, koordiniert die Pilotaktivitäten quer durch ganz Europa und reist zu den Meetings konsequent nur mit dem Zug.  

Von Beginn an war die Mannheimer Wissenschaft­lerin mit ihrem interdisziplinären Team der Lehr­stühle Wirtschafts­informatik II und Konsumenten­psychologie mit Tatkraft und Begeisterung bei der Sache, entwickelte Ideen, die zum Projektantrag führten, schrieb an diesem mit und freute sich schließlich über den EU-Zuschlag. „Unser Ziel ist es, den Menschen einen Großteil der Kontrolle über ihren Energie- und Stromverbrauch wieder in die Hand zu geben, in der Hoffnung, damit die Energiewende zu beschleunigen. Wie das gehen kann, zeigen wir in unseren Pilot­projekten“, sagt Sonja Klingert. Im November 2020 legte das Forschungs­team los und seither ist einiges passiert. Die Architektur des IT-Systems steht bereits und wird in einem agilen Prozess umgesetzt, die ersten psychologischen Studien zu Befindlichkeiten und Wünschen der beteiligten Menschen an den Pilot­projekten befinden sich in der Auswertung. Die Frage, um die sich alles dreht, lautet: Wie lässt sich die Nutzung von regenerativen Energien besser in den Alltag der Menschen integrieren? Um das herauszufinden, arbeiten Forschende aus den verschiedensten Disziplinen gemeinsam am RENergetic-Projekt. „Was wir unbedingt vermeiden wollen ist, dass wir ein ausgefuchstes IT-Tool entwickeln, dass am Ende daran scheitert, dass es die Leute nicht nutzen oder es nicht in die regulativen Rahmenbedingungen passt,“ erklärt Prof. Dr. Christian Becker vom Lehr­stuhl für Wirtschafts­informatik II. Momentan wird deshalb untersucht, welche Kombination aus intelligenter Steuerung und Anreizstrukturen für die Nutzer zum effizientesten Wärmelast­management führt.   

Im belgischen Hafenviertel ist das Kreislauf­system der Energieinsel besonders ausgeklügelt: Aus dem Wasser von Dusche, Spülmaschine und Waschmaschine wird auch das letzte bisschen Wärme gezogen und wieder in den Kreislauf für die Wärmeentstehung zurückgeführt. Küchenabfälle landen nicht im Biomüll, sondern in der hauseigenen Kompostanlage, die daraus Biogas zum Heizen und Humus für den Gemeinschafts­garten im Innenhof gewinnt. Doch selbst die innovativste Technik kann nur optimal genutzt werden, wenn die Menschen mitmachen. Oft geht das gegen alte Gewohnheiten. In Gent gibt es am frühen Morgen – um fünf Uhr – einen Peak in der Wärmeerzeugung. Optimalerweise würden die Menschen ihre Räume schon um diese Zeit hochheizen und nicht erst, wenn sie sich beim Aufstehen in der Küche den ersten Kaffee kochen. „Wir möchten, dass die Leute es in Ordnung finden, dass ihre Wohnungen schon beim Aufstehen warm sind und dass die Anlage dann zwischen acht und zehn Uhr nicht so intensiv genutzt wird. Aber das muss man kommunizieren. Und aus der psychologischen Forschung wissen wir zum Beispiel, dass Menschen sich am ehesten auf neue Konzepte einlassen, wenn sie Vertrauen in die entsprechende Organisation aufgebaut haben. Transparenz ist immens wichtig,“ erklärt die Mannheimer Psychologin Dr. Celina Kacperski. Im Augenblick diskutiert das Forschungs­team darüber, ob etwa Push-Nachrichten eingesetzt werden sollen oder ob es eine grafische Aufbereitung geben wird, auf die die Nutzer aktiv zugreifen müssen. 

Ob nun die Menschen im belgischen Hafenviertel, die Studierenden im polnischen Poznan oder auch die Angestellten des Krankenhauskomplexes in Norditalien – sie sind alle Anwender der ersten Stunde. Was hier erforscht und herausgefunden wird, fließt unmittelbar in das Webinterface ein, dass das Team des Projekts RENergetic entwickelt. Doch allein bleiben sollen die drei Energieinseln nicht. „Das ist eigentlich auch der Clou an dem Projekt: Der EU geht es um die Replizierbarkeit. Damit wir den Energieimpact haben, wollen wir ja, dass möglichst viele solcher Energieinseln in ganz Europa entstehen“, fasst Sonja Klingert das erklärte Forschungs­ziel zusammen. Replizierbar muss vor allem die Architektur des IT-Systems sein. Die Daten­modelle, die anhand der Pilot­projekte entwickelt werden, sollen auch für zukünftige Standorte gelten können. Selbstredend wird nicht jedes weitere Projekt oder jeder weitere Anwendungs­fall alle Komponenten, die die Forschenden im Augenblick entwickeln, für sich durchführen können. Das ist auch jetzt schon so: In Poznan gibt es keine Elektromobilität und so wird das entsprechende Modul nicht benötigt, in Gent und Segrate spielt die Elektromobilität hingegen eine große Rolle. Und auch wenn Sonja Klingert von solchen Herausforderungen spricht, schwingt immer Enthusiasmus in ihrer Stimme mit. „Bei mir Zuhause muss ich selbst im Auge behalten, wann gerade die Sonne scheint und ich unser E-Auto optimalerweise an die Steckdose hänge. Mit Hilfe unseres Projekts können wir schon bald ganz vielen Menschen solche Entscheidungen abnehmen und somit aktiv an der Energiewende mitarbeiten,“ sagt sie. Wenn alles nach Plan läuft, trifft sich das Forschungs­team im Frühsommer in Poznan. Ein Blick auf die App der Deutschen Bahn verrät: Dreimal umsteigen, Reisedauer achteinhalb Stunden.

Text: Jule Leger / April 2022