Header des FORUM-Magazins in hellgrün und dem Titel "Da wächst etwas". Eine Collage mit einer Biene an einer Blüte, einer Hand mit einem Apfel, einem Windrad und im Hintergrund das Mannheimer Schloss.

Klimaschutz, der doppelt lohnt

Die Erdatmosphäre als Mülldeponie der Menschheit – kostenfrei und unendlich nutzbar. Lange Zeit war das die Normalität, seit 2005 gibt es in Europa mit dem EU-Emissionshandels­system allerdings ein Instrument zur Intervention. Seither müssen Industriebetriebe und Kraftwerke für das ehemals freie Gut zahlen, pro Tonne ausgestoßenem CO2 derzeit etwa 77 Euro. Die Umverteilung der CO2-Emissionen innerhalb Europas gilt als beabsichtigte Folge dieses Handels­systems. Aber findet dadurch auch eine Umverteilung der Luftschadstoffe statt, die mit dem CO2 ausgestoßen werden? Und wie wirkt sich das auf die Gesundheit der Menschen in Europa aus? Nach Antworten auf diese Fragen sucht der Mannheimer Umweltökonom Prof. Ulrich Wagner, Ph.D., in seinem ERC-geförderten Projekt „HEAL“.

157 Meter hoch in den rheinischen Himmel hinauf ragen die Kreuzblumen des Kölner Domes. Keine 20 Kilometer Luftlinie entfernt stehen nicht minder gigantische Türme: die Schornsteine und Kühltürme des Kraftwerks Niederaußem im Rhein-Erft-Kreis. 200 Meter misst hier der größte Kühlturm und gilt damit als der zweithöchste der Welt. Niederaußem ist ein mit Braunkohle betriebenes Kraftwerk, das auch in Sachen CO2-Ausstoß den ein oder anderen Rekord hält. 2015 verursachte es die dritthöchsten Treibhausgasemissionen aller europäischen Kraftwerke. Die Rauchschwaden, die das Kraftwerk kontinuierlich umhüllen, sind die stummen Zeugen dieser Zahlen. 

Sieben Jahre sind seit diesem Rekord in Niederaußem vergangen, seit siebzehn Jahren gibt es den CO2-Zertifikatehandel in Europa. Prof. Ulrich Wagner, Ph.D., ist im rheinischen Braunkohlerevier aufgewachsen, er kennt den Anblick von riesigen Tagebaulöchern und dampfenden Kraftwerken aus seiner Kindheit. Vielleicht sei das mit ein Grund dafür gewesen, dass er eine Laufbahn als Umweltökonom eingeschlagen habe, überlegt der Professor für Volkswirtschafts­lehre laut. Dann muss er lachen und beginnt von seinem Projekt „HEAL“ zu erzählen, das mit einem der renommierten Consolidator Grants des European Research Councils (ERC) gefördert wird. Das interdisziplinäre Projekt vereint zwei Forschungs­gegenstände, die den 45-jährigen schon länger umtreiben. „In meiner Forschung habe ich mich bereits mit der Frage befasst, wie Firmen auf die CO2-Bepreisung reagieren. Und zur Luftqualität wollte ich ohnehin schon immer eingehender forschen, weil das ein Kernthema der Umweltökonomie ist“, erzählt Wagner. Im „HEAL“-Projekt führt er die beiden Themenkomplexe zusammen. Hier soll herausgefunden werden, ob durch die Einführung des Zertifikatehandels mehr oder weniger Menschen in Europa schädlicher Luftverschmutzung ausgesetzt sind und welchen ökonomischen Schaden oder Nutzen dies verursacht.  

Im Mittelpunkt der Forschung stehen jene Luftschadstoffe, die gemeinsam mit dem CO2 in die Atmosphäre gelangen und die sich – im Gegensatz zu CO2 – lokal und regional auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken. Stickoxid, Schwefeldioxid, Ruß, Feinstaub, Zink und Arsen – „Co-Pollutants“ nennt der Umweltökonom die Nebenprodukte, die bei der Verbrennung von Braunkohle anfallen und die, obwohl ihr Handel eigentlich nicht vorgesehen ist, im EU-Emissionshandels­system implizit mitgehandelt werden. „Dadurch, dass man in einem rheinischen Braunkohlekraftwerk eine Tonne CO2 weniger ausstößt, wird unter Umständen woanders mehr Kohle verbrannt, so dass es neutral ist mit Blick auf die CO2-Emissionen, weil diese im System fixiert sind. Aber die Co-Pollutants sind nicht im System festgehalten und auch pro Kraftwerk unterschiedlich. Im Rheinland sind beispielsweise andere Filter verbaut als in Ostpolen. Zusätzlich kommt es noch darauf an, wo die Luftschadstoffe freigesetzt werden. Vor den Toren Kölns kann es mehr Menschen beeinträchtigen, als wenn die Schadstoffe irgendwo im polnischen Waldgebiet freigesetzt werden“, so Wagner. 

Die Umverteilung der CO2-Emissionen innerhalb Europas ist eine beabsichtigte Folge des Zertifikatehandels, denn so können die Gesamtkosten der Emissionsvermeidung möglichst gering gehalten werden. Findet aber dadurch auch eine Umverteilung der Luftschadstoffe statt? Um diese Frage zu beantworten, rechnet der Wissenschaft­ler mit Daten zu Co-Pollutants von mehr als 6.000 Luftverschmutzern, die am Zertifikatehandel teilnehmen. Dies birgt die Chance eines doppelten Benefits: „Wenn Sie dem Kraftwerk Niederaußem vorschreiben, dass es nur noch halb so viel Braunkohle verbrennen darf, dann halbieren sich auch die ausgestoßenen Luftschadstoffe. Daraus ergibt sich ein möglicher Co-Benefit: Wir haben zwar Vermeidungs­kosten, aber durch vermiedene Gesundheitsschäden fallen diese aus volkswirtschaft­licher Sicht geringer aus oder heben sich ganz auf“, sagt Wagner. 

Um herauszufinden, wie sich die Änderungen im Emissions­verhalten tatsächlich auf die öffentliche Gesundheit auswirken könnten, hat Wagner eine Atmosphärenchemikerin in sein Mannheimer Team geholt. Sie simuliert mit einem komplexen Rechen­modell, wie sich die Luftschadstoffe in Abhängigkeit von Wetter, Topografie und chemischen Prozessen in der Atmosphäre verteilen. Fallen sie direkt am Schornstein ab oder werden sie mit Wind und Wetter weitertragen? Am Ende möchte Wagner eine genaue Vorstellung jeder individuellen „Wolke“ der untersuchten Kraftwerke haben und genau wissen, wieweit sie reicht und wie hoch die Bevölkerungs­dichte in dem Gebiet ist. Täglicher Antrieb ist für ihn auch der Nutzen, den das „HEAL“-Projekt der europäischen Klimapolitik in Zukunft bringen kann. „Mit dem Modell, das wir erarbeiten, wird man viele andere energie- und klimapolitische Maßnahmen auf einen möglichen Co-Benefit hin untersuchen können. Ich hoffe auf diese Weise, glaubwürdige Evidenz zum möglichen Nutzen der Klimapolitik beitragen zu können“, sagt Wagner. Sind die eine Million Kölnerinnen und Kölner nun gesundheitlich mehr oder weniger belastet, seit es die CO2-Bepreisung gibt? Noch hat der Umweltökonom darauf keine Antwort, bis zum Projektende 2025 bleibt diese Frage auch für ihn spannend. 

Text: Jule Leger / April 2022